Magische Geschichte über eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft.
"Und so willst du aus dem Haus gehen?"
Jack steht neben der Haustüre, er mustert mich kritisch. Fast bereue ich es, ihm ein Skateboard zur Fortbewegung gegeben zu haben, doch wie immer wird das von dem Gedanken unterbunden, dass er so wenigstens ein bisschen selbstständig ist und ich mich nicht allzu sehr um ihn kümmern muss.
"Ja, will ich. Was passt nicht?"
Ich mustere mich unauffällig im Garderobenspiegel. Eigentlich bin ich schon aufbruchsbereit und habe mein Aussehen schon oft genug im Spiegel überprüft, deshalb will ich Jack nicht die Genugtuung geben, dass ich wegen ihm ein weiteres Mal mein Outfit überprüfe.
Gibt eigentlich nichts zu bemängeln. Gut, ich habe meine besseren Klamotten herausgesucht, habe etwas mehr Zeit vor dem Kleiderschrank und vor dem Spiegel verbracht und das sieht man auch, aber sonst weiß ich nicht, was mein Mitbewohner meinen könnte.
"Bist so schick angezogen. Hast du ein Date?"
Entnervt verdrehe ich die Augen, dann schiebe ich mit dem Fuß sein Skateboard beiseite. Seine Proteste sowie seine Schläge ignoriere ich dabei. Hauptsache, die Türe wird frei und ich kann gehen.
"Nein. Ich treffe mich mit ein paar Freunden."
Jack stellt seine Proteste ein. Nun wackelt er vielsagend mit den Augenbrauen.
"Ist da jemand dabei, den du dir angeln willst?"
Eigentlich ist die Türe schon frei. Trotzdem trete ich noch einmal gegen das Skateboard und Jack rollt weiter in die Wohnung hinein.
Wieder geht das Gezetere los.
"Nein! Das sind einfach nur Freunde!"
Jetzt aber weg hier. Ich schnappe mir meine Tasche, öffne die Haustüre und gehe hinaus. Als ich die Türe schließe, höre ich Jack noch einmal.
"Kann ich mit?"
"Nein! Und das weißt du ganz genau."
Ein letztes Grummeln, bevor die Türe sämtlichen Protest schluckt. Endlich frei!
Aber wie kam es eigentlich zu dieser skurrilen Männer-WG? Nun, das ist eine ebenso skurrile Geschichte.
Morgen ist Halloween. Und ich bin perfekt vorbereitet. Etwas spät - bis zum 31. Oktober ist es nur noch eine Stunde -, aber ich bin fertig.
Ich habe nicht etwa Süßigkeiten für das alljährliche Trick and Treat gekauft. Am Halloweenabend bleiben meine Lichter aus und langsam haben die Racker kapiert, dass ich an diesem Tag nie da bin. Nein, meine Halloweenvorbereitungen beschränken sich auf einen Kürbis und der steht vor mir. Auf einem Haufen liegen seine Kerne und anderer Abfall, in einem Topf habe ich die brauchbaren Kürbisstücke gesammelt und in der Mitte des Tisches ruht der Rest - ein ausgehöhlter Kürbis mit hineingeschnitztem Gesicht.
"Gut siehst du aus."
Ich wohne wohl schon viel zu lange alleine, wenn ich jetzt schon mit einem Kürbis spreche. Aber verdammt, es stimmt - er sieht richtig gut aus. Ich habe nicht etwa ganz plump ein paar Löcher geschnitten. Die Löcher sind verschieden tief, nur wenige gehen komplett durch und dank dem Licht der batteriebetriebenen Kerze, die ich hineingestellt habe, wirkt er echt gut.
Ein Meisterwerk. Man sieht, dass das mein jährliches Ritual ist - ich werde allmählich zu einem Kürbis-Schnitzmeister.
Dieser Kürbis kommt mir nicht vor die Türe. Alleine für die Nachbarn gebe ich mir nicht so viel Mühe. Nein, das ist mein Kürbis, meiner alleine. Sollen sich die Nachbarn halt ihre eigenen Kürbisse schnitzen.
Okay, das tun sie. Die sehen allerdings nicht ansatzweise so gut aus wie meine.
Zufrieden stehe ich auf. Den Abfall werfe ich in den Mülleimer, der Topf kommt auf den Herd und ein Deckel darauf. Morgen gibt es Kürbissuppe.
Der geschnitzte Kürbis bleibt auf dem Tisch stehen, inklusive brennender Kerze. Gibt eine schöne Deko für morgen Früh.
Dann mache ich mich auf den Weg ins Bett. Ist höchste Zeit - ich muss morgen früh raus und zur Arbeit.
Der Wecker klingelt natürlich viel zu früh. Also, gefühlt zumindest. Ich muss tatsächlich zu dieser unmenschlichen Uhrzeit aufstehen.
Mit fast geschlossenen Augen schlurfe ich ins Bad, mache mich dort fertig, dann schlurfe ich weiter in die Küche. Kaffee, ich brauche Kaffee. Am besten intravenös, zwei Liter, schwarz. Okay, schwarz nicht unbedingt, das schmeckt mir nicht. Aber stark, bitte.
Mein erster Weg führt mich also zum Kaffeebereiter. Ich gebe etwas Kaffee hinein, gieße ihn mit Wasser auf und lasse ihn erst mal ziehen.
Als nächstes ist der Kühlschrank dran. Ich öffne die Türe, mustere den Inhalt. Sieht nicht gut aus da drinnen. Ich sollte heute nach der Arbeit unbedingt einkaufen. Bisschen Wurst, bisschen Fleisch... Würde meine Mutter meinen Kühlschrankinhalt sehen, würde sie ja eher Gemüse und Obst auf die Einkaufsliste setzen, nachdem sie mir eine Gardinenpredigt zum Thema Vitamine und ausgewogene Ernährung gehalten hätte. Aber sie sieht meinen Kühlschrank zum Glück nicht und für mich ist der Vitaminanteil völlig ausreichend.
Salami, für heute muss es Salami tun. Kein Problem, ich mag Salami, sonst hätte sie auch nicht den Weg in meinen Kühlschrank gefunden. Ich greife also nach der Wurst und -
"Ey."
Ich erstarre, die Hand kurz vor der Salami.
Was war das? Wer oder was spricht hier?
Ich wohne alleine hier, in dieser Wohnung ist niemand außer mir. Auf Radio verzichte ich grundsätzlich, mein Handy liegt noch im Schlafzimmer und ist eh auf lautlos gestellt.
"Ey, du."
Ganz langsam drehe ich mich um, dabei schweift mein Blick durch die Küche. Alles ist wie immer, alles steht dort, wo es sein soll. Der Kaffeebereiter dampft vor sich hin, auf dem Herd steht der Topf mit den Kürbisstücken und auf dem Tisch ist der Kürbis, den ich gestern Abend geschnitzt habe.
Alles wie immer.
Okay, ich bin wohl noch nicht ganz wach. Also, jetzt, nach diesem Schreck, schon, aber gerade eben... Ich muss mir das eingebildet haben. Jetzt nehme ich endlich meine Salami, gieße mir eine Tasse Kaffee ein und gönne mir meine Henkersmahlzeit, bevor es zur Arbeit geht.
Gedacht, getan. Ich drehe mich wieder zum Kühlschrank um und will die Salami greifen. Doch dann erstarre ich wieder. Denn plötzlich fällt mir etwas ein, was gestern anders war als jetzt.
Der Kürbis. Sein Gesicht zeigte in die Richtung meines Stuhles, weil ich ihn nach dem Schnitzen einfach stehen gelassen habe.
Jetzt hat er in meine Richtung, also Richtung Kühlschrank geschaut.
Meine Hände zittern, als ich mich wieder umdrehe.
"Na endlich."
Tatsächlich. Der Kürbis sieht mich an.
Er sieht mich wirklich an. Es ist nicht nur so, dass er mit dem Gesicht zu mir steht - er sieht mich an. Sein Grinsen ist breiter als ich es geschnitzt habe und...
Sein Mund hat sich gerade eben eindeutig bewegt. Er hat gesprochen.
"Was machst du hier?"
Ich bin so überrumpelt, dass ich dem Kürbis einfach die erste Frage, die mir durch den Kopf schießt, an dem Kopf werfe.
Wieder grinst er. Seine Augenbrauen wandern ein bisschen in die Mitte - verdammt, er ist wirklich detailgetreu und im Moment ärgere ich mich darüber, dass ich ihm so viele Details verpasst habe. Ich glaube, ein Kürbis mit komischem Mund und einfachen Augen wäre nicht so beängstigend gewesen. Vielleicht wäre so ein Kürbis auch gar nicht erst zum Leben erwacht.
"Warten. Ich habe Hunger, aber du schaffst es ja nicht, den Tisch zu decken."
Jetzt schaffe ich es endlich, die Salami aus dem Kühlschrank zu nehmen - hauptsächlich tue ich das, um endlich die Türe schließen zu können. Dann lehne ich mich daneben.
"Warum... Warum lebst du?"
Nun verzieht der Kürbis den Mund. Soll wohl ein Äquivalent zum Schulterzucken sein - Schultern hat er ja keine. Da war meine Kreativität zum Glück aufgebraucht.
"Keine Ahnung. Musst du wissen, ich bin ja in deiner Küche. Ich war plötzlich da."
Das klingt echt überzeugend. Und plötzlich... nehme ich das einfach so hin. Ich habe einen Kürbiskopf auf dem Küchentisch - okay. Er spricht - auch okay. Er will mich nicht umbringen, kann das ja auch schlecht, und obwohl er echt komisch ist, scheint er trotzdem irgendwie in Ordnung zu sein.
Ich mache also weiter wie geplant und wie sonst auch. Nehme mir etwas Brot, einen Teller und Besteck, das kommt auf den Tisch, dann hole ich mir eine wohlverdiente Tasse Kaffee.
"Du auch?"
"Kannste Kaffee kochen?"
"Klar."
"Schmeckt er auch?"
"Klar."
"Dann ja."
Eine zweite Tasse Kaffee folgt. Damit lasse ich mich am Tisch nieder - den Kürbis schiebe ich ein bisschen nach hinten, damit ich vor mir Platz für meinen Teller habe.
"Ey, vorsichtig!"
"Ja, ja."
Und so beginnt mein erstes Frühstück mit Kürbis.
Auf dem Heimweg lasse ich noch mal den Morgen Revue passieren.
Ist das wirklich passiert? Ich war mir ja echt sicher, dass ich wach und bei vollem Bewusstsein war, aber im Laufe des Tages verschwand diese Sicherheit. Klar, ich habe gefrühstückt, doch war da wirklich ein Kürbis dabei? Ein sprechender Kürbis?
Kann doch nicht sein. Andererseits wage ich es auch nicht, meine Wahrnehmung so sehr in Frage zu stellen. Nicht mal im größten Suff hatte ich solche Wahnvorstellungen und heute Früh war ich nüchtern.
Ich bin also auf alles vorbereitet, als ich meine Wohnung betrete. Und ich bin auch nicht überrascht, als ich in der Küche von einem "Na, wie war dein Tag, Schatz? Ach, lass stecken - was gibt´s zum Abendessen?" begrüßt werde.
"Kürbissuppe."
"Haha, na klar. Lass den Scheiß. Was gibt es wirklich?"
Oh, Fettnäpfchen. Natürlich möchte der Kopf auf meinem Tisch nicht seine Innereien essen.
Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder entsorge ich diesen Schwätzer auf dem Kompost unten im Hof und mache mir meine Kürbissuppe oder ich finde mich damit ab, dass ich einen orangenen, merkwürdigen Mitbewohner habe und nehme dementsprechend Rücksicht auf ihn.
Ich mustere das Gemüse. Ein bisschen Ähnlichkeit zu meinem Schnitzwerk ist noch erkennbar, trotzdem sieht er anders aus. Lebendiger, einfach. Die Gesichtszüge bewegen sich, haben sich passender verzogen.
"Sind Spaghetti in Ordnung?"
"Ja, passt. Außer du machst Kürbissauce dazu."
Wir grinsen uns an und ich habe das Gefühl, wir werden uns echt verstehen. So gut, wie man sich halt mit einem Mitbewohner versteht.
"Neee. Ich dachte an Tomatensauce."
Als ich von dem Treffen mit meinen Freunden nach Hause komme, liegt Jack schnarchend auf der Couch. Vor ihm auf dem Couchtisch aufgereiht steht der Rest unseres Bierflaschenvorrates - alle leer.
Vorsichtshalber überprüfe ich jede auf ihren Deckel, aber vergeblich. Jack war konsequent.
"Nicht dein Ernst."
Kurz stoppt das Schnarchen.
"Doch. Selbst schuld."
Dann ist das Schnarchen noch lauter und ich bin echt froh, dass zwischen Wohnzimmer und meinem Schlafzimmer eine Türe ist, die zumindest einen Großteil des Schnarchens schlucken sollte.
Das Zusammenleben mit einem Kürbiskopf ist echt schwierig. Aber im Grunde ist es wie bei jeder anderen WG auch: Man liegt sich ständig in den Haaren und trotzdem kann man nicht ohne einander.
Darf das olle Gemüse nur nicht erfahren, dass ich inzwischen fast so abhängig von ihm bin wie er von mir.
Neugierig auf mehr fantastische Geschichten....