Emily - die Geschichte der Freiheit

Der Apfel – eine Versuchung » Emily – die Geschichte der Freiheit

Nach jahrelanger Gefangenschaft nun endlich befreit - auf der Suche nach einem Königreich.

Wisst ihr, wie wundervoll Freiheit ist? Wie fantastisch das Gefühl ist, Gras unter seinen Pfoten zu spüren, frische Luft einzuatmen, einen Vogel zwitschern zu hören und all das in dem Wissen, dass das nicht in ein paar Minuten vorbei ist, weil man zur nächsten Vorstellung gerufen wird?
Verzeiht mir, wenn ich euch mit meiner Schwärmerei gelangweilt habe. Eigentlich wollte ich von mir erzählen, aber ich bin etwas abgedriftet.
Ich bin Emily, ein ehemaliger Zirkusbär. Warum ehemalig? Nun ja, nach einigen Jahren Schufterei - ich kam als Baby zum Zirkus, heute bin ich ein Jungbär und bis vor kurzem habe ich noch in diesem Zirkus mein täglich Brot (und mehr war es wirklich nicht) verdient...
Wo war ich? Ich habe mich schon wieder verzettelt, ich Schussel. Also, nach einigen Jahren Schufterei, in denen ich tagein, tagaus meine Tricks üben musste und ständig Auftritte hatte, stand ein Tierschutzverein vor der Türe. Sie begutachteten mich und meine Unterbringung, sprachen mit meinen - nun ehemaligen - Herren und dann beschlossen sie, mir die Freiheit zu schenken. Ich wurde betäubt und als ich wieder aufwachte, lag ich in einem dunklen, wackelnden Raum, der Ähnlichkeit mit dem Käfig hatte, in dem ich von Auftrittsort zu Auftrittsort transportiert wurde. Nachdem der Käfig zum Stillstehen kam, öffnete sich von alleine die Türe und ich erhaschte meinen ersten Blick auf...
Natur.
Ihr müsst verstehen, ich kenne die freie Natur nicht. Vermutlich gab es eine Zeit vor dem Zirkus - ich kenne meine Mutter nicht, habe sie nie kennengelernt, aber wenn sie zum Zirkus gehört hätte, wäre sie dort immer noch. Vielleicht war ich in der Zeit vor meiner Erinnerung frei, ich weiß es nicht.
Dieser Blick durch die offene Türe hinaus in einen Wald war mein erster bewusster Kontakt mit der Natur. Es war so viel mehr als der Blick über weite Felder von unseren Stellplätzen aus und auch so viel mehr als der Blick durch ein vergittertes Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft - denn diesmal waren keine Gitter, keine Absperrungen zwischen mir und diesem wunderbaren Anblick.
Trotzdem hatte ich Angst. Ich war misstrauisch geworden in meinen Jahren im Zirkus. Dort hatte ich nämlich zwei Dinge gelernt, die mir in dieser Situation einfielen.
Erstens: Man bekommt nicht einfach so etwas Schönes vor die Nase gesetzt. Immer wenn ich ein Leckerli bekam, hatte ich zuvor einen Trick gemacht. Das war diesmal nicht der Fall. Irgendetwas stimmte also nicht.
Zweitens: Es gibt keine Freiheit. Wie oft hatte ich schon eine offene Türe im Zirkus gesehen? Es war ein Leichtes, vor einer Aufführung durch den Stoff des Zeltes abzuhauen. Aber sie bekamen mich jedes Mal wieder und die Bestrafung lehrte mich nach einigen Ausbrüchen, weitere Fluchtversuche zu unterlassen.
Aber da war diese offene Türe und kein Mensch weit und breit. Ich hatte Angst, aber auch Sehnsucht. Ich wollte das, was ich dort sah, genauer unter die Lupe nehmen, ertasten, erschnüffeln, entdecken.
Also habe ich ganz vorsichtig einen Schritt nach den anderen nach vorne gemacht, bis ich das Moos unter meinen Füßen gefühlt habe. Moos, echtes Moos! Ich war davon so überwältigt, dass ich nur nebensächlich mitbekommen habe, wie die Türe hinter mir zufiel und der Wagen mit meinem letzten Gefängnis davon rauschte.
Ich war frei.
Ich war frei und ich bin es immer noch. Die Faszination der Freiheit ist immer noch nicht abgeklungen, ich genieße immer noch jeden Atemzug, jeden Schritt. Aber allmählich kommt noch etwas anderes dazu. Ich könnte noch Stunden, Tage, Wochen, ja, mein ganzes Leben lang über die Wiesen und durch die Wälder toben und ich hätte mich immer noch nicht sattgesehen. Doch ich bin alleine und ich habe Hunger.
Ich weiß nicht, ob es ein Problem ist, dass ich bisher nur gefüttert wurde. An und für sich kann ich mir schon vorstellen, mir selbst meinen Magen zu füllen. Die Einsamkeit ist daher im Moment schlimmer. Der Gedanke an meine mögliche Familie, die ich nur ganz kurz gekannt habe, noch bevor meine Erinnerung eingesetzt ist, hat eine Sehnsucht in mir geweckt - ich möchte andere Bären finden.
Deshalb suche ich gerade nichts zu essen, auch wenn mein Magen schon knurrt. Ein bisschen halte ich noch durch, das weiß ich aus dem Zirkus, wo ich auch oft weit vor den Futterzeiten Hunger hatte und trotzdem bis dahin nicht verhungert bin.
Ich suche Spuren. Spuren jeglicher Art - Gerüche, Hinterlassenschaften, alles, was darauf hindeutet, dass sich hier in der Nähe Bären aufhalten. Denn dass es irgendwo in dieser Gegend Bären gibt,  da bin ich mir ganz sicher. Sonst wäre ich nicht hier ausgesetzt worden. Alleine in einem Wald herumzulaufen ist auf Dauer ja nicht allzu viel besser als im Zirkus zu sein.
Meine Ahnung trügt mich nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich schon unterwegs war, doch dann trotte ich einfach so in ein Bärenlager. Ohne Vorwarnung oder ähnliches - ich habe nicht einmal etwas gerochen oder gesehen, bin einfach meinem Gefühl gefolgt. Und plötzlich stehe ich auf einer Lichtung, auf der es sich unzählige - später erfahre ich, dass es gar nicht so viele waren, aber für einen Bären, der noch nie in seinem Leben andere Bären gesehen hat, sind selbst eine Handvoll Bären unglaublich viel - Bären gemütlich gemacht haben.
Kurz erstarre ich vor Ehrfurcht. Ich bin an meinem Ziel angekommen! Ich bin unter meinesgleichen!
Doch die anderen Bären reagieren nicht. Ein paar heben den Kopf und mustern mich, andere wiederum beachten mich gar nicht. Keiner erhebt sich, keiner heißt mich willkommen.
Ich setze mich wieder in Bewegung, mache vorsichtig mehrere Schritte nach vorne. Wieder keine Reaktion. Selbst dann nicht, als ich mitten auf der Lichtung stehe.
Entmutigt will ich mich fast schon wieder auf den Rückweg machen. Doch ich kann nicht. Ich bin zum ersten Mal unter anderen Bären! Da kann ich nicht einfach so wieder abhauen. Auch wenn die Bären nicht auf mich reagieren, will ich bei ihnen bleiben. Immerhin haben sie mich noch nicht angegriffen. Das ist ein gutes Zeichen, oder?
Okay, ich bleibe hier. Ich gehe also weiter, sehe mich dabei um. Da, da drüben unter der großen Eiche ist eine größere Lücke im Kreis der Bären. Dort werde ich mich einfach niederlassen. Mal schauen, was dann passiert. Zumindest bin ich dann schon mal ein Teil ihres Kreises und so schaffe ich es hoffentlich, auch von ihnen anerkannt zu werden.
Ich setze meinen Plan in die Tat um und laufe hinüber zu dem Baum, den ich als mein Ziel auserkoren habe. Doch kaum will ich mich dort niederlassen, bekomme ich plötzlich einen Schlag gegen die Schulter und gerate ins Taumeln.
Ein anderer Bär steht neben mir. Er ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn vorher noch im Kreis gesehen habe.
Der Bär funkelt mich böse an, er hat seine Pfote gehoben. Dann spricht er und seine Stimme ist tief, knarzig und... bärig. Ganz anders als alles, was ich bisher gehört habe und trotz seiner Angriffshaltung fühle ich mich irgendwie angekommen.
"Was willst du hier?"
Die Gedanken rasen durch meinen Kopf. Wie viel soll ich ihm erzählen? Was will er alles wissen? Wie viel kann ich ihm erzählen, ohne dass er wütend auf mich ist? Ich habe das Bedürfnis, ihm alles zu erzählen, aber ob er damit einverstanden ist?
Am besten fasse ich mich kurz.
"Ich bin aus einem Zirkus. Ich bin dort befreit worden und hier im Wald ausgesetzt worden. Ich bin sehr froh, zu euch gefunden zu haben. Ich habe noch nie andere Bären getroffen."
Kurz wird der Blick des Bären ganz weich, doch dann schüttelt er vehement seinen riesigen Kopf.
"Nein, was machst du -"
Mit seiner Pfote wedelt er nun hinüber zur Eiche.
"Hier?"
Mein Blick geht ebenfalls hinüber zur Eiche. Mir fällt dort nichts Ungewöhnliches auf - es ist ein Baum, mehr nicht. Ein besonders großer Baum, aber was meint der Bär?
"Hier war ein Platz frei. Ich wollte mich zu euch setzen."
Er sieht mich forschend an, dann wendet er den Blick ab. Erst da fällt mir auf, dass sich nun auch die anderen Bären um uns versammelt haben - der, der mich gerade befragt, scheint ihr Anführer zu sein. Zumindest ist er der Größte und dem Anschein nach Stärkste von ihnen.
Seine Lippen verziehen sich tatsächlich zu einem Lächeln, als er in die Runde blickt.
"Sie weiß nichts davon."
Verwirrt sehe ich ebenfalls die anderen Bären an. Doch die Antwort kommt wieder von dem großen Bären. Er legt mir kurz seine Pfote auf die Schulter und bedeutet mir, mit ihm zu kommen. Ich gehorche ihm und so umrunden wir gemeinsam den Baum.
Auf der anderen Seite angekommen, verstehe ich die Aufregung der Bären etwas besser. Dort klebt am Baumstamm ein Stück Papier, es ist dort mit Harz befestigt, soweit ich das erkennen kann. Die Bären reihen sich mit ehrfürchtigem Blick hinter uns auf, der große Bär bleibt neben mir stehen.
"Das hier ist unser wertvollster Besitz. Wir dachten, du willst ihn stehlen."
"Ich will nichts stehlen! Ich suche ein neues Zuhause."
Das Lächeln des Bärs ist nun gütig, wieder fühle ich seine Tatze auf meiner Schulter.
"Ich weiß. Und das sollst du auch bei uns bekommen."
Das ist alles? Ich werde einfach so in die Gemeinschaft aufgenommen?
Es sieht ganz danach aus, auch wenn ich das nach dem Angriff noch gar nicht so recht glauben kann. Auf der anderen Seite kann ich die anfängliche Feindseligkeit verstehen und der Anführer-Bär macht den Eindruck auf mich, als könnte er mich mühelos durchschauen. An und für sich ist das echt unheimlich, doch in diesem Fall hilft mir das erheblich weiter.
Die Freude und die Erleichterung durchströmt meinen Körper. Ich habe ein neues Zuhause unter Bären!
Dann fällt mir ein, dass wir immer noch vor dem Blatt Papier stehen. Ich wende mich wieder dem großen Bären zu und als hätte er nur darauf gewartet, fährt er mit seiner Erklärung fort.
"Das ist eine Gottesbotschaft. Sie bedeutet uns sehr viel. Wir können zwar nicht verstehen, was darauf steht, aber es ist eine Botschaft Gottes."
Ich wage es nicht, den Blick von ihm abzuwenden, um diese Botschaft unter die Lupe zu nehmen. Daher richte ich meine Frage direkt an ihn.
"Warum versteht ihr sie nicht? Ist sie in einer anderen Sprache geschrieben?"
Der Bär schüttelt den Kopf, er wirkt schwermütig.
"Wir können nicht lesen."
Oh. Aber ich kann lesen! Ich habe es im Zirkus beigebracht bekommen - einer meiner Wärter hat mir öfter etwas vorgelesen und ich habe dabei gerne über seine Schulter geschielt. Dabei habe ich gelernt, die Zeichen auf dem Papier mit den Worten aus seinem Mund zu verbinden.
Nun sehe ich doch hinüber zu dem Zettel und überfliege ihn kurz. Dann kann ich mir das Lachen kaum verkneifen.
Die vergötterte Botschaft ist ein Rezept für Apfelmus.
Jahre später...
Erschöpft lässt sich die Bärin, die heute die Aufsicht über den Nachwuchs von diesem Jahr hat, auf der Wiese nieder. Endlich hat sie es geschafft, all die kleinen Bären um sich zu versammeln.
Noch ein kurzer ermahnender Blick zu zwei dieser Exemplare, die sich prügeln wollen, dann sind wirklich alle ruhig.
Fast alle. Ein kleiner vorlauter Bär kann sich nicht zurückhalten.
"Essen wir jetzt endlich?"
Sie schüttelt den Kopf, von den Bärchen kommt ein Chor von enttäuschten Seufzern.
"Ihr wisst doch, dass wir uns erst bedanken."
Kurzerhand, um das Ritual einzuleiten, greift sie nach den Pfoten der Bären neben sich. Diese nehmen wiederum die Pfoten ihrer Nebenbären, bis sie in einem durch die Pfoten verbundenen Kreis sitzen.
Dann ergreift sie wieder das Wort.
"Wir danken dem lieben Gott dafür, dass er uns Essen gegeben hat. Und wir danken seiner Botschafterin, der Bärin Emily, der Herrin der Zungen, die uns das Rezept für unsere Gottesspeise gegeben hat."
Die Bären murmeln hastig weitere Dankesworte, dann sind die kleinen Racker nicht mehr zu stoppen. Jeder schnappt sich seinen Löffel, sie machen sich über die große Schüssel her.
Sie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, bevor auch sie ihren Löffel nimmt und versucht, sich etwas von dem Apfelmus zu ergattern.

Das Rezept für Emilys Apfelmus finden Sie in unserem Blog.

Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neugierig auf mehr tierische Geschichten....

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Unser Buchtipp

Picknick mit Bären. Bill Bryson will es seinen gehfaulen Landsleuten zeigen: 
Gemeinsam mit seinem Freund Katz, der aufgrund gewaltiger Leibesfülle und einer festverwurzelten Leidenschaft für Schokoriegel nicht gerade die besten Voraussetzungen dafür mitbringt, will er den längsten Fußweg der Welt, den "Appalachian Trail", bezwingen.
Eine abenteuerliche Reise quer durch zwölf Bundesstaaten der USA beginnt...
Ein Reisebericht der etwas anderen Art - humorvoll, selbstironisch und mit einem scharfen Blick für die Marotten von Menschen und Bären!

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