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Der Apfel – eine Versuchung » Der Seelentröster

Der Seelentröster....
eine packende Geschichte über eine unheimliche Zugfahrt mit überraschendem Ausgang. Bitte einsteigen!

Wie nach jedem Arbeitstag sitze ich im Zug, der mich nach Hause bringt. Seit Jahren fahre ich diese Strecke. Morgens vierzig Minuten in die Stadt, abends vierzig Minuten zurück. Die Fahrt ist meistens echt angenehm und entspannend - auf meiner Strecke kommt es eher selten zu Problemen. Während der kurzen Reise lese ich gerne oder hänge meinen Gedanken nach.
Manchmal nicke ich während der Fahrt ein. Kurz darauf fahre ich dann erschrocken hoch, weil ich befürchte, meine Station verschlafen zu haben. Das ist jedoch noch nie passiert. Besonders abends auf der Heimfahrt, wenn es dämmert oder gar schon dunkel ist, passiert es, dass mir die Augen zufallen und ich in einen kurzen Schlaf falle. Jede Anstrengung, wach zu bleiben, ist zwecklos. Meine Gedanken verschwimmen und noch ehe ich es merke, bin ich eingeschlafen. Manchmal gleite ich wie auf Wolken in einen Dämmerschlaf, der so leicht ist, dass ich alles, was um mich herum passiert, noch mitbekomme.
Heute hatten wir Stromausfall in der Firma, für die ich arbeite. Fast zwei Stunden waren wir zum Nichtstun verdammt. Ohne Strom und Internet funktioniert nichts mehr. Da aber einige Arbeiten eilig waren und unbedingt noch heute fertig gemacht werden mussten, war an einen pünktlichen Feierabend nicht zu denken. So kommt es, dass ich heute fast eineinhalb Stunden und vier Züge später im Zug sitze.
Das Abteil ist nur spärlich besetzt und so hatte ich keine Probleme, einen Platz am Fenster zu ergattern. Während die Sitzplätze zu meiner üblichen Fahrzeit meist nicht für alle Fahrgäste ausreichen und einige Leute stehen müssen, sind heute nur zehn oder zwölf andere Passagiere mit mir in meinem Abteil.
Es gibt nichts Schlechtes, dem man nicht auch eine gute Seite abgewinnen kann, denke ich und grinse vor mich hin.
Die Türen schließen sich und der Zug rollt los. Raus aus dem Bahnhof und langsam auch aus der Stadt. Es dämmert bereits und die Autos auf den Straßen fahren mit Licht.
Heute war ein langer, anstrengender Arbeitstag und ich spüre, wie ich erst jetzt zur Ruhe komme. Das gleichmäßige Rollen und Rattern des Zuges beruhigt mich. Müdigkeit kündigt sich an, ich werde schläfrig. Aber ich will nicht schlafen und kämpfe mit aller Macht gegen die aufsteigende Müdigkeit an.
Eine Durchsage kündigt die nächste Haltestelle an. Einige Fahrgäste machen sich zum Aussteigen bereit und sammeln sich vor den Türen. Die Haltestelle kommt in Sicht und schon rollt der Zug ganz behutsam an den Bahnsteig, bis er ganz zum Stehen kommt. Die Türen öffnen sich und Leute steigen aus, niemand steigt zu. Die Türen schließen sich wieder und die Fahrt geht weiter. Für mich sind es noch vier Stationen, bis auch ich mein Ziel erreicht habe.
Im Moment bin ich echt zufrieden mit dem Tag und der Welt und fühle mich wohl. Ich bin zwar erschöpft, aber auch froh darüber, meine Arbeit trotz der Umstände noch geschafft zu haben.
Meine Augenlider werden schwer und dieses Mal verliere ich den Kampf gegen die Müdigkeit. Mein Kopf liegt an der Fensterscheibe und ich dämmere weg. Ich schlafe tief, fest und traumlos.
Mit einem Ruck schrecke ich auf. Draußen ist es dunkle Nacht. Im Abteil ist Dämmerlicht und der Zug rattert durch die Nacht. Ich stehe auf und sehe mich im Abteil um. Außer mir ist niemand mehr da, alle anderen sind wohl schon ausgestiegen. Ich bin alleine. In meiner Tasche suche ich mein Handy. Ich versuche, es anzuschalten, doch der Akku ist leer. Erschrocken und ängstlich überlege ich, was ich tun kann. Ich schaue angestrengt aus dem Fenster und versuche etwas zu erkennen. Etwas, das mir verrät, wo ich sein könnte. Ich sehe keine Stadt, noch nicht einmal ein Haus. Nur an mir vorüberziehende Bäume.
Das bringt mich nicht weiter. Also laufe ich auf die andere Seite des Zuges, um dort aus dem Fenster sehen. Mit den Händen schirme ich meine Augen ab, ich suche konzentriere nach Anhaltspunkten. Aber auch auf dieser Seite des Zuges sehe ich nichts anderes.
Plötzlich bemerke ich, dass der Zug an Geschwindigkeit verliert. Ich stürze zu meinem Platz und schaue aus dem Fenster nach draußen. In der Ferne kann ich ein fahles Licht erkennen. Beim Näherkommen versuche ich zu erspähen,, was dort vorne ist. In der Ferne meine ich eine Haltestelle zu erkennen.
Meine Anspannung lässt nach, als ich sicher bin, dort vorne eine Haltestelle zu sehen. Fast muss ich über meine Furcht lachen.
Der Zug ist merklich langsamer geworden und nähert sich der Station. Schnell greife ich nach meiner Jacke und der Tasche und wanke zur Tür. Ungeduldig spähe ich nach draußen, während der Zug in der Station einrollt. Der Zug kommt zum Stehen und mir fällt ein Stein vorm Herzen. Das ist eine Geschichte, die ich noch meinen Enkels erzählen kann, schmunzle ich vor mich hin.
Dann hält der Zug an und die Tür geht auf. Ich mache einen Schritt auf den Bahnsteig und schaue mich um. Ein Ortschild kann ich nicht erkennen, nur die große Bahnhofsuhr über mir. Es ist 20:10 Uhr, das heißt, ich habe mehr als zwei Stunden geschlafen. Ungläubig starre ich zur Uhr.
Hinter mir schließt der Zug die die Türe, fährt an und verschwindet in der Nacht.
Schräg vor mir, gegenüber der Gleise sehe ich ein kleines Gebäude mit erleuchteten Fenstern. Vielleicht ist das eine Schalterhalle mit Imbiss, denke ich. Beim Näherkommen höre ich Stimmen durch die Türe.
Ich trete ein und sofort umfängt mich der Duft von frischgebackenem Kuchen. Es könnte Apfelkuchen sein, denn ein Hauch von Zimt liegt in der Luft. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Ich sehe mich um. Ein eigenartiges Lokal ist das. Die Besitzer sind wohl Nostalgiker oder Retro-Fans. Das Lokal sieht aus wie aus längst vergangenen Zeiten. Das Mobiliar, wie man es aus Schwarz-Weiß-Filmen kennt. Es riecht auch etwas muffig, wie in einem Museum. Mein Geschmack wäre das nicht und wirklich wohl fühle ich mich hier nicht. Aber Geschmäcker sind bekanntlich unterschiedlich.
Der Mann hinter der Theke schaut zu mir und nickt nur kurz. Er trägt ein weißes Hemd, dazu eine schwarze Fliege. Seine Haare sind gegelt und straff nach hinten gekämmt. Sehr korrekt, sehr ordentlich. An der Theke sitzen zwei Männer im Gespräch. Beide mit Stoffhose, Sakko und Krawatte gekleidet. Beide tragen einen Hut. Alle drei passen perfekt in diese Kulisse.
Aber ich kümmere mich nicht weiter darum und gehe auf die Theke zu. Dabei sehe ich einen weiteren Gast, der an einem der Tische sitzt und in einer Zeitung liest. Die Zeitung ist in einen altmodischem Holzhalter gespannt. So ein Teil habe ich in alten Filmen gesehen, real habe ich so etwas noch nie gesehen. Ein wirklich witziges Lokal mit komischen Leuten ist das hier.
Ich spreche den Mann mit der Fliege an. Nach einer kurzen Begrüßung frage ich direkt, ob er mir sagen kann, wann der nächste Zug zurück in die Stadt fährt. Der Mann schaut mich an, als ob er mich nicht verstanden hat und antwortet dann nach einer Minute des Nachdenkens, dass hier kein Zug fährt. Verblüfft erkläre ich, dass ich doch eben mit dem Zug hier angekommen bin und schnellstens wieder zurück müsse. Der Mann schaut mich verständnislos an und wiederholt langsam. “Hier ist kein Bahnhof, also kann hier auch kein Zug fahren.”. Er dreht sich um und beginnt, seine Gläser zu spülen.
Ich finde das nicht witzig. Wollen mich die Leute hier mit Ihrem Nostalgie-Klub auf den Arm nehmen oder was soll das Ganze hier? Ich bin müde und werde langsam wirklich wütend. Man wird doch wohl erwarten können, eine vernünftige Antwort auf eine einfache Frage zu bekommen. Ich drehe mich um und marschiere in Richtung Türe. Nicht genug, dass ich in einer gottverlassenen Gegend gelandet bin, jetzt muss mich auch noch von diesem Witzbold veralbern lassen. Auf dem Bahnsteig werde ich schon einen Fahrplan finden und selbst heraus finden, wann der nächste Zug fährt.
Ich öffne die Türe und mache einen Schritt auf die Straße. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Wo ist der Bahnsteig? Ich drehe mich um, hinter mir die Türe, durch die ich vor wenigen Minuten in dieses eigenartige Lokal gegangen bin. Ich sehe weder Bahnsteig noch Gleise. Gegenüber nur zwei alte Häuser, dazwischen eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster.
Ganz sicher habe ich mich geirrt und bin bei einer anderen Türe in das Lokal gegangen. Ich wende mich nach rechts und gehe um die Ecke des Hauses. Ich sehe keinen Bahnsteig. Jetzt laufe ich schnell am Haus entlang zur nächsten Hausecke, spähe um die Ecke und sehe auch hier keine Gleise. Nun renne ich zur nächsten Ecke. Als auch hier keine Gleise und kein Bahnsteig zu finden ist, renne ich weiter um die vierte Hausecke und sehe, dass ich wieder an der Vorderseite des Hauses bin. Ich spüre wie mein Blut zu kochen anfängt, gleichzeitig friere ich am ganzen Körper. Der Schweiß steht mir auf der Stirn. Panik breitet sich aus. Meine Beine sind weich wie Pudding. Und meine Gedanken rasen. Ich habe mit einem Mal rasende Kopfschmerzen.
Ich drehe mich um, öffne die Tür und trete wieder ein. Langsam schlurfe ich zum Tresen. Vorbei an dem Mann mit der Zeitung, der sich zu mir umdreht. Er schaut sehr überrascht, als er mich sieht und legt seine Zeitung zurück auf den Tisch. Ich greife nach der Zeitung und lese auf der ersten Seite das Datum. Es ist der 12. April 1952.
Fast falle ich die wenigen Schritte zum Tresen, um mich grade noch daran festzukrallen. Der Mann mit der Fliege sieht mich und kommt dann sofort auf mich zu. Er packt mich am Arm und spricht mich an.
“Was ist passiert? Sie sehen ja schrecklich aus!”
Der Mann führt mich zu einem Tisch und erklärt, dass er gleich wieder da ist und mir Kaffee und ein ordentliches Stück frischen, selbstgebackenen Kuchen bringen will. Sicher wird es mir dann auch gleich besser gehen. Schlaff sitze ich, unfähig mich zu bewegen. Meine Gedanken überschlagen sich, aber ich habe keinen Plan.
Der Mann kommt zurück und stellt eine Tasse vor mir auf den Tisch. Dazu einen Teller mit einem großen Stück gedecktem Apfelkuchen. Der Kuchen duftet wunderbar nach Äpfeln und Zimt. Mit der Gabel steche ich ein Stück Kuchen ab und schiebe mir die Gabel in den Mund. Der Kuchen ist noch warum und schmilzt in meinem Mund. Die Äpfel, der Zimt und der süße Teig, wunderbar. Nie habe ich einen besseren Kuchen gegessen.
Es gibt nichts Schlechtes, dem man nicht auch eine gute Seite abgewinnen kann, denke ich und genieße meinen Kuchen. Sicher gibt es hier auch ein Zimmer für mich mit einem bequemen Bett.

Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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