Futterringe

Nüsse und Kerne » Das Verschwinden der Futterringe

Futterringe verschwinden auf geheimnisvolle Weise.
Als der Dieb ertappt wird, kommt Licht ins Dunkel.
Es ist ein Morgen wie jeder andere auch - also ein beschissener. Dabei könnte er eigentlich echt gut sein. Es sind nämlich Ferien und ich könnte in meinem Bett liegen und ausschlafen. Aber nein, meine Mutter beharrt auf einen gemeinsamen Start in den Morgen. Wir sollen alle beieinander sitzen, sollen alle vernünftig essen... Das ist so überflüssig, wirklich. Was ändert es schon, ob ich am Tisch sitze oder in meinem Bett liege? Sie interessieren sich eh nicht für mich.
Mann, ich vermisse mein Bett. Dementsprechend müde hänge ich auf meinem Stuhl, mein Kopf liegt auf der Tischplatte, neben der Müslischüssel. Allerdings nur ein paar Augenblicke, dann bemerkt mich meine Mutter.
"Mensch, setz' dich doch vernünftig hin."
War ja klar. Ständig hat sie etwas zu kritisieren und dass ich etwas zu kritisieren habe - nämlich, dass ich nicht wie meine Freundinnen um die Uhrzeit noch im Bett liegen kann -, ist ihr mal wieder egal.
Aber damit sie ruhig ist, setze ich mich wieder aufrecht hin. Zumindest ein Weilchen...
Meine Mutter sieht es nicht einmal. Na super.
Mir gegenüber sitzt meine kleine Schwester in ihrem Kinderstühlchen. Sie ist fröhlich und munter, also das Gegenteil von mir. Allerdings wäre ich auch wesentlich fröhlicher, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Die ganze Zeit pantscht sie mit ihren kleinen dicken Händchen im Müsli herum und keiner sagt etwas.
Das ist so typisch. Ich habe - im Gegensatz zu ihr - nicht einmal den Tisch dreckig gemacht, aber natürlich bekomme nur ich Ärger. Aber dass sie der kleine Liebling ist, das ist mir schon länger klar.
Dann sitzt noch mein Vater mit am Tisch. Seine Zeitung verdeckt größtenteils die Sicht auf den Esstisch - es reicht scheinbar gerade mal, um die Kaffeetasse und sein belegtes Brot zu sehen. Danach greift er abwechselnd.
Einerseits bin ich ja ganz froh, dass er in seiner eigenen kleinen Welt ist. Sonst hätte er mich wahrscheinlich auch noch angemosert. Andererseits ist das so was von sinnlos. Wenn er mich eh nicht sieht, warum bin ich dann hier? Ich könnte genauso gut im Bett liegen.
Meine Eltern bestimmen. Und das nutzen sie aus, um unsinnige Anweisungen zu machen. Das ist so beschissen.
Jetzt ist meine Mutter wieder zufrieden. Sie tut so, als wäre alles gut - strahlt vor sich hin, trinkt aus ihrer Kaffeetasse... Ihr ist mal wieder egal, dass sie mich gerade eben noch so angepampt hat.
Gut, dann ist es mir auch egal. Ich rutsche wieder in meinem Stuhl nach unten. Soll sie doch schimpfen.
Plötzlich gibt mein Vater ein Lebenszeichen von sich. Hätte ich auch darauf verzichten können - er schimpft nämlich mal wieder. Andererseits schimpft er nicht über mich und dann ist es nicht so schlimm.
Es geht um einen Zeitungsbericht, auf den er gerade gestoßen ist. Darin geht es um das riesige, brach liegende Grundstück gleich hinter der Kirche und damit weiß ich sofort, was er zu schimpfen hat. Ist nämlich sein Lieblingsthema.
Mein Vater arbeitet in einer Bank in unserer Kleinstadt in der Immobilienabteilung. Er ist ein immer korrekt angezogener, vielbeschäftigter Mann. Sieht man ja auch jetzt, wie viel er zu tun hat. Da stehe ich natürlich immer hinten an.
Und das Grundstück hinter der Kirche... Er meint, das wäre ein Schandfleck in der Gemeinde und wenn man ihn nur machen lassen würde, sähe das alles ganz anders aus. Wenn er nur den in die Finger bekäme, dem der Grund gehört, den würde er schon zum Verkauf überreden und so weiter und so weiter.
Er könnte sich stundenlang darüber aufregen und ich finde es echt lustig, wie er sich da immer echauffiert. Sieht er mal, wie es mir geht, wenn er mir wieder blöd kommt.
Für mich ist dieser Platz kein Problem. Schon als ich klein war, war ich ständig dort - es ist der Treffpunkt von allen Kindern und Jugendlichen in dieser Ecke der Stadt. Man kann dort Fußball spielen, Indianer, Fangen... Oder auch einfach nur herumsitzen, sich mit anderen treffen und lästern.
Meine Mutter meint, es wäre doch prima, mitten in der Stadt ein Biotop zu haben. Aber ich glaube, das meint sie nicht ernst. Meine Mutter sagt manchmal Dinge, bei denen ich nicht wirklich weiß, ob es ein Spaß sein soll.
Und mein Vater sieht das natürlich anders. Er hatte wohl im Büro mehrere Anfragen wegen dem Grundstück und es hätte ihm schon gefallen, einige davon anzunehmen. Da waren große Firmen dabei - für ihn hätte es eine dicke Provision gegeben und für die Stadt mehr Steuereinnahmen und Arbeitsplätze und so, sagt er. 
Aber er konnte sie nicht annehmen. Er kann nämlich den Besitzer nicht finden und das regt ihn auf. Das einzige, was er weiß, ist, dass das Feld einer Frau Marianne Tischner gehört, aber niemand kennt die Frau. Diese Frau Tischner lebt hier nicht und niemand kann sich erinnern ob sie hier gewohnt hat und wohin sie gegangen ist.
Deshalb ist er gerade wieder so wütend - wie jedes Mal, wenn er in der Zeitung von dem Grundstück liest. Die großen Konzerne sind in andere Städte in der Region gegangen. Gerade erzählt er zum Beispiel von einem großen Lebensmittelkonzern, der auch bei ihm angefragt hat und der nun ein Baugrundstück fünfzig Kilometer weit weg gekauft hat, weil mein Vater unseren Treffpunkt nicht verkaufen konnte.
Heute ist es besonders schlimm, heute regt er sich ganz besonders auf. Als er die Zeitung ein bisschen sinken lässt, sehe ich, dass sein Kopf knallrot ist.
Meiner Mutter wird das wohl zu viel. Sie steht auf und fängt an, den Tisch abzuräumen. Dabei sieht aus dem Fenster und auf einmal frägt sie mich ganz beiläufig: "Hast du denn gestern das Vogelhäuschen  aufgefüllt?".
Verdammt. Habe ich vergessen. Ich sage nichts, doch mein roter Kopf sollte Antwort genug sein. Wäre es zumindest, wenn meine Mutter zu mir sehen würde. Aber sie redet einfach weiter.
"Irgendwie schon komisch, dass unser Vogelhäuschen ständig leer ist. Jeden Tag ist alles komplett aufgefressen - gierige Vögel, so etwas habe ich all die Jahre noch nicht gesehen."
Nun kramt sie in der Dose, in der sie die selbstgemachten Vogelfutterringe aufbewahrt, nimmt einige heraus und geht ins Wohnzimmer zur Terrassentür. Scheinbar hat sie schon mitbekommen, dass ich vergessen habe, den Vögeln ihr Futter herzurichten, aber sie ist nun so gut gelaunt, dass es sie nicht stört. Auch gut.
Doch dann hören wir einen gellenden Schrei aus dem Wohnzimmer. Er kommt von meiner Mutter.
Mein Vater lässt seine Zeitung fallen, er springt auf und stürzt hinüber. Ich folge ihm auf dem Fuß.
Dort, im Wohnzimmer, vor der Terrassentüre, steht meine Mutter mit kreidebleichem Gesicht. Sie zeigt mit dem Finger nach draußen. Auf ihrem Finger sind die Futterringe aufgereiht, das sieht ziemlich skurril aus.
Fast gleichzeitig kommen wir bei ihr an. Sofort blicken wir nach draußen, dorthin, wo meine Mutter zeigt.
Neben dem Vogelhäuschen auf der Terrasse liegt eine Frau. Sie ist mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt, als ob sie jemand mit Puderzucker bestäubt hätte.
Mein Vater schiebt meine Mutter zur Seite, um die Türe zu öffnen. Dann geht er hinaus zu der Frau und kniet sich neben ihr auf den Boden. Er greift ihr an den Hals.
Einen Moment ist es ganz ruhig, dann dreht er sich zu meiner Mutter um und sagt: "Ruf die Polizei an, die Frau ist tot.".
Überraschenderweise habe ich keine Angst oder so. Dafür bin ich neugierig. Deswegen gehe ich zu meinem Vater und schaue die tote Frau an. Die erste Erkenntnis kommt schnell - ich kenne diese Frau. Das ist die Lumpenanni. Ich habe sie oft in der Stadt gesehen. Sie ist obdachlos, bettelt oder durchwühlt Abfalleimer nach Brauchbarem.
Nun liegt sie auf unserer Terrasse und hat einen von Mamas Futterringen in der Hand.
Nach einer Weile kommt meine Mutter wieder. Sie tritt neben uns auf die Terrasse, teilt meinem Vater dabei mit, dass die Polizei auf dem Weg ist. Dann sieht sie sich zum ersten Mal die Frau an.
"Oh mein Gott!"
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie sich die Hand vor den Mund schlägt. Ihre Augen sind geweitet. Entweder hat sie erst jetzt so richtig verstanden, dass diese Frau tot ist oder sie ist wegen dem Futterring in ihrer Hand so entsetzt.
Zweiteres, erfahre ich kurz darauf.
"Sie ist also diejenige, die ganzen Vogelringe klaut und isst!"
Na ja, jetzt wird sie wohl keine mehr essen. Trotzdem ist meine Mutter erschüttert. Sie murmelt noch etwas vor sich hin, das nach "Schrecklich..." klingt.
Doch dann reißt sie sich am Riemen. Sie legt ihre Hand auf meinen Rücken und schiebt mich wieder zurück ins Wohnzimmer. Ich lasse es nur deshalb geschehen, weil es hier eh nichts mehr zu sehen gibt und weil es langsam draußen kalt wird. Soll doch mein Vater ganz stolz seinen Fund bewachen - auch wenn es da nicht viel zu tun gibt, die Frau wird wohl kaum weglaufen.
In der Küche hebt meine Mutter meine Schwester aus ihrem Stuhl - sie hat bis gerade eben ganz unbeeindruckt von der allgemeinen Aufregung in ihrer Müslischüssel herumgerührt. So verfrachtet sie uns beide in mein Zimmer. Mir gibt sie noch die Anweisung, auf meine Schwester zu achten und im Zimmer zu bleiben, dann läuft sie wieder nach unten. Immerhin fällt ihr im Türrahmen noch ein, dass wir fernsehen dürfen.
Kaum hat sie die Türe hinter sich geschlossen, stürze ich ans Fenster. Doch es bringt nichts - ich sehe weder auf die Straße, wo gleich Polizei und Konsorten anrücken sollten, noch auf die Terrasse, auf der die Leiche liegt. Schade.
Also setze ich mich wieder neben meine Schwester, die vor sich hin brabbelt.
Wann habe ich die Lumpenanni zum letzten Mal gesehen?
Meine Mutter hat ihr schon öfter mal einen Euro gegeben, dass weiß ich noch. Sie hat die  arme Frau immer bedauert, hat gesagt, wie schlimm es ist, wenn man im Alter arm ist. Es sei schrecklich, wenn man keine Familie hat und hungern muss, völlig allein und kein Zuhause.
Ich habe die Lumpenanni erst vor einer Weile vor der Schule gesehen, fällt mir ein. Dort hat sie im Mülleimer nach alten Pausenbroten gesucht. Ich habe nicht hingeschaut, weil mir das echt peinlich war.
Auf einmal geht die Tür zu meinem Zimmer auf und meine Mutter streckt den Kopf herein.
"Alles okay bei euch?"
Mein Blick huscht zum Wecker neben dem Bett. Ich habe gar nicht bemerkt wie die Zeit vergangen ist.
Als ich ihre Frage bejahe, nickt sie zufrieden.
"Kommt, wir gehen runter."
Eigentlich richtet sich die Aufforderung nur an mich - meine Schwester nimmt sie auf den Arm. So gehen wir nach unten, kehren in die Küche zurück. Meine Schwester wird in ihrem Hochstuhl verfrachtet, ich nehme auf meinem Platz gegenüber von ihr Platz, während meine Mutter Kaffee macht.
Irgendwie bin ich gerade echt... erleichtert. Es ist gut, dass wir uns einfach so Kakao machen können - es ist gut, dass wir genug zu essen haben und nicht auf Vogelfutterdiebstähle oder ähnliches angewiesen sind.
Mein Vater kommt heute sehr früh nach Hause. Er ist ganz aufgeregt und will meiner Mutter erzählen, was passiert ist. Natürlich bleibe ich in ihrer Nähe und höre mit.
Er musste mit zur Polizei und alles zu Protokoll geben. Eigentlich hatte er nicht viel zu erzählen, aber trotzdem hat das alles sehr lange gedauert. Immerhin ist es ja nicht normal, eine Leiche auf der Terrasse liegen zu haben.
Kurz bevor er gehen wollte, kam ein Polizist in den Raum gerannt. Er war völlig aus dem Häuschen und teilte umgehend mit, warum. Man hat herausgefunden, wer die Frau ist.
Mein Vater machte eine Pause, um meine Mutter auf die Folter zu spannen. Doch das lässt sie sich nicht gefallen.
„Jetzt sagt schon, wer war die Lumpenanni?“
Ganz kurz schaut mein Vater beleidigt, doch das Bedürfnis, uns alles mitzuteilen, ist stärker. Deshalb fährt er gleich fort.
Der Polizist erzählte also dem Kommissar, dass sie die Identität überprüft haben und festgestellt haben, dass die Lumpenanni in Wirklichkeit Marianne Tischner hieß.
Meiner Mutter klappt der Mund auf, sie starrt meinen Vater fassungslos an.
„Das gibt es doch nicht... Der Frau gehört das riesige Grundstück mitten in der Stadt? Dann ist sie doch - war sie doch steinreich. Und ich habe der Frau hin und wieder einen Euro geschenkt! Einer Millionärin! Eine Millionärin, die meine Futterringe geklaut hat!"
Wir sehen uns alle an. Meine Mutter immer noch überrascht, mein Vater zufrieden, weil seine Neuigkeiten ein echter Knaller waren und ich... Ja, ich bin auch überrascht.
Dann können wir nicht anders. Wir prusten einfach los.

Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neugierig auf mehr unheilvolle Geschichten....

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