3. Advent

Der Dezember ist da! » 3. Advent: Weihnachtsbesuch

Weihnachtsbesuch ..... Weihnachten, das Fest der Liebe, das Fest, an dem man seine Liebsten um sich versammelt.
Doch manchmal mischt sich ein ungewünschter Besucher unter die Festgemeinde.
Horror zum Advent.
Jeden Sonntag gibt es einen neuen Besuch.

Nichts für schwache Nerven!

Ein zartes Klimpern durchdringt die Stille im Erdgeschoss des kleinen Häuschens. Es ist eine sachte Melodie, sehr ruhig und langsam und ganz gewissenhaft gespielt. Etwas Schwermütiges haftet an ihr und das liegt nicht nur daran, dass sie nur aus tiefen Tönen besteht.
Trotz dieser Einseitigkeit klingt sie nicht falsch. Jeder Ton passt, jeder Ton ist dort, wo er sein sollte.
Heinrich ignoriert die Musik. Sein knorriger Finger liegt auf einer Seite des Fotoalbums, das aufgeschlagen vor ihm liegt – auf einem Foto, um genau zu sein. Sein Blick ist fest darauf gerichtet, er lässt sich von nichts ablenken.
So sitzt er schon länger da. Mit gekrümmtem Rücken, gesenktem Kopf und Blick ins Fotoalbum. Nur hin und wieder bewegt er sich, um ganz langsam die großen Seiten umzublättern, eine nach der anderen, immer sehr bedächtig.
Weihnachten. Ein weiteres Weihnachtsfest, das er alleine verbringt.
Heinrich hat keinen Weihnachtsbaum, keine Weihnachtsdekoration, noch nicht einmal Geschenke. Während die restliche Bevölkerung hektisch durch die Innenstadt jagte, auf der Suche nach Geschenken, schlurfte er zwischen ihnen hindurch, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, nur um ein paar Lebensmittel zu besorgen, nur das Nötigste.
Mathilda, sie fehlt ihm. Sie fehlt ihm jeden Tag, aber an Tagen wie diesen ganz besonders. Man kann nun einmal nicht vergessen, mit wem man einen Großteil seines Lebens verbracht hat und Mathilda war nicht nur einen Großteils seines Lebens an seiner Seite, sie war ein Großteil seines Lebens. Mathilda und Heinrich, Heinrich und Mathilda, sie waren eine Einheit, durch nichts und niemanden zu zerstören.
Nur durch den Tod.
Mathilda ging. Sie ging und ließ ihn zurück, ganz alleine. Denn wen gab es außer ihr schon?
Ganz am Anfang Schulkameraden, dann Arbeitskollegen, dann Nachbarn und Bekannte. Alles nette Leute, keine Frage, er hat sich gut mit ihnen verstanden. Mit den meisten nicht ganz so gut wie Mathilda, die ein unglaublich offener Mensch war, zwar keiner, der sich mit jedem anfreundete, doch zu ihren Freunden und Bekannten hatte sie ein sehr enges Verhältnis.
Es war ihm nie wirklich bewusst, sie waren ja schließlich eine Einheit. Dass Mathilda einen Großteil der Freundschaften ausgemacht hat, wurde ihm erst bewusst, als sie weg war und er die ganze Last tragen hätte müssen.
Heinrich ist einsam und es ist ihm bewusst. Trotzdem ändert er nichts daran, kann es einfach nicht. Alles fühlt sich so leer an ohne Mathilda, auch all die Freundschaften, die sie im Laufe der Jahre geknüpft haben. Ohne Mathilda geht es einfach nicht.
Familie gibt es nicht. Heinrich war – für seine Zeit untypisch – ein Einzelkind, Mathilda hatte zwar mehrere Geschwister, doch alle bis auf einen Bruder, dessen Spur sich nach Amerika verloren hat, sind bereits gestorben. Weitläufigere Verwandtschaft war nicht ihr Ding, vor allem Mathilda bevorzugte es, sich mit selbst ausgewählter Gesellschaft zu umgeben, statt zwangsweise Menschen einzuladen.
Sie blieben kinderlos. All die Jahre über, selbst dann, als alle anderen in ihrem Umfeld erst Eltern und nicht allzu viel später die ersten schon Großeltern wurden. Nein, es gab nur sie beide, die ganze Zeit über.
Und jetzt gibt es nur noch Heinrich.
Nun bewegt sich sein Finger etwas. Er streicht über das Foto, über die Wange einer Frau, die an ein Auto gelehnt steht.
Mathilda. Seine Mathilda, damals bei ihrem Ausflug nach Sizilien…
Obwohl Heinrich im Laufe der Zeit immer mehr vergisst, hat er das Gefühl, dass er sich an immer mehr Details seines Lebens mit Mathilda erinnern kann. Ständig kehren Erinnerungen zurück, so wie jetzt, wo er das Auto mustert und ihm einfällt, wie sie auf einer italienischen Autobahn versuchen mussten, einen Reifen zu wechseln. Mehrere hilfsbereite Autofahrer hielten neben ihnen an, doch da sie alle Einheimische waren und Heinrich und Mathilda der italienischen Sprache nicht mächtig, mussten sie sich mit Händen und Füßen verständigen und die Reparatur artete in eine Scharade aus.
Heinrich lächelt ganz leicht. In seinem Lächeln steckt unglaublich viel Wehmut.
Wenn Mathilda heute hier wäre… Es würde nach Weihnachtsgans riechen, so wie all die Jahre. Mathilda war ein unglaublich spontaner Mensch, hat es gehasst, sich festlegen zu müssen, doch die Weihnachtsgans war Tradition. Heinrich hat sich nicht darüber beschwert – auch er hatte einen Hang zu Spontaneität, war dort jedoch nicht so konsequent wie seine Frau. Wenn ihm etwas gefallen hat, konnte er sich dort problemlos festlegen. Und so war es auch bei der Gans: Sie hat ihm unglaublich gut geschmeckt, also hatte er kein Problem damit, sie jedes Jahr wieder serviert zu bekommen. Im Gegenteil – er hat sich jedes Jahr wieder darauf gefreut.
Dieses Jahr gibt es keine Weihnachtsgans. Nur etwas Kartoffelbrei mit Sauce.
Was den Haushalt angeht, lässt er sich nicht lumpen. Würde Mathilda das Haus sehen können, wäre sie echt zufrieden mit ihm – er räumt regelmäßig auf, gibt Acht darauf, dass alles sauber und ordentlich ist.
Etwas Besseres hat er ja nicht zu tun. Er kann nur darauf achten, dass alles, was ihn an Mathilda erinnert, die Zeit übersteht. Und die meisten Erinnerungen stecken nun einmal in diesem Haus.
Endlich nimmt er das Klavierspiel wahr. Sein Kopf hebt sich, doch er dreht ihn nicht Richtung Wohnzimmer, dorthin, wo das Klavier steht.
Diese Musik… Sie ist schwermütig, zeichnet sich durch eine sanfte Traurigkeit aus. Obwohl er das Lied noch nie zuvor gehört hat, fühlt er sich, als wäre es eine altbekannte, lang vergessene Melodie. So wie all die Erinnerungen an Mathilda, die allmählich zurückkehren.
Mathilda würde das Lied mögen, das weiß er. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Klaviermusik und diese Einfachheit würde ihr Herz berühren. So einfach und trotzdem so ausdrucksstark…
Auch sie hat Klavier gespielt. Im Laufe der Zeit immer weniger, doch Heinrich weiß noch gut, wie versonnen ihr Blick wurde, wenn sie auf dem mit rotem Samt bezogenen Hocker Platz nahm und sich ihre Finger auf die weißen Tasten legten. Und das ist keine Erinnerung, die erst jetzt zurückkommt – das konnte er nie vergessen, wird er nie vergessen können. Wie sie dabei gelächelt hat… Er hat ihr immer gerne zugehört, aber hauptsächlich hat er sie dabei angesehen, hat sie beobachtet, wie sie in der Musik versank, wie sich ihr Lächeln auf ihrem Gesicht ausgebreitet hat, wie sie am Ende des Liedes aus ihrer Trance erwacht ist und das Lächeln blieb.
Sie war wunderschön. Vor allem am Klavier.
Dann schiebt Heinrich den Stuhl zurück, er steht auf. Dabei gleiten seine Hände unter den Buchrücken des Fotoalbums und als er steht, klappt er es zu. Kurz verharrt er so, blickt auf den roten Einband herab, auf die abgestoßenen Ecken, in seinem Kopf wechseln sich die darin festgehaltenen Bilder ab wie bei einer Diashow.
Es ist vorbei. Seine Zeit ist vorbei, sie ist es schon längst. Sie war vorbei, als Mathildas Herz aufhörte zu schlagen. Und nun…
Es ist an der Zeit.
Heinrichs Schritte sind fest und sicher, so fest und sicher wie schon lange nicht mehr, als er zum Küchenschrank geht. Dort, unter den Glastüren, hinter denen er ganz deutlich das gute Porzellangeschirr erkennt, das Mathilda nur für Kaffee und Kuchen verwendet hat, befindet sich eine kleine Schublade.
Er zieht sie heraus und entnimmt den unter einem Tuch verborgenen Revolver. Ein Überbleibsel aus alten Zeiten, dennoch gut in Schuss… Er hat ihn so lange nicht mehr verwendet, doch Qualitätsarbeit vergeht nicht so schnell.
Wahrscheinlich hat er einfach nur auf Heinrich gewartet.
Als ein Knall aus der Küche ertönt, erstarrt die Hand auf dem Klavier. Dann rutscht sie von den Tasten ab und fällt auf den Boden.
....... gespannt auf den nächsten Besuch? Nächsten Sonntag geht es weiter!

Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unser Buchtipp

Die verbotene Zeit. London 1975: Nach einem schweren Autounfall sind Carlas Erinnerungen wie ausgelöscht,
und sie setzt alles daran, die verlorene Zeit zu rekonstruieren. 
Der Journalist David Grant behauptet, sie sei auf der Suche nach ihrer Schwester gewesen,
die vor sechzehn Jahren spurlos an der Küste von Cornwall verschwand. 
Doch kann sie ihm vertrauen? Und was verbergen ihre Eltern vor ihr?
Die Wahrheit führt Carla weit zurück in die Vergangenheit, in das Berlin der Dreißigerjahre,
zu einer ungewöhnlichen Freundschaft und einer verbotenen Liebe, aber auch zu einer schrecklichen Schuld ...

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