Weihnachtsbesuch ..... Weihnachten, das Fest der Liebe, das Fest, an dem man seine Liebsten um sich versammelt.
Doch manchmal mischt sich ein ungewünschter Besucher unter die Festgemeinde.
Horror zu Weihnachten.
Jeden Sonntag gibt es einen neuen Besuch.
Heute der letzte Teil.
Nichts für schwache Nerven!
Stück für Stück tastet Lisa sich vorwärts. Erst erfühlt sie mit den Zehenspitzen die Stufe vor ihr, dann setzt sie den Fuß ab, dann erfühlt sie die nächste Treppenstufe… So schleicht sie die Treppe herunter.
Der riesige Karton, den sie die Treppe herunter trägt, nimmt ihr die Sicht. Sie sieht die Treppenstufen nicht, sieht nicht, ob sie richtig steht oder ob etwas im Weg ist. Deshalb muss sie sich so abmühen.
Davon lässt sie sich allerdings nicht die gute Laune trüben. Denn gut gelaunt, das ist sie auf jeden Fall. Wie soll sie auch anders? Es ist Weihnachten, da ist man glücklich, das gehört einfach dazu.
Genau genommen ist Lisas Weihnachten schon vorbei. Die Feier ist beendet, sie räumt gerade die Deko auf. Das ändert jedoch nichts daran, dass immer noch der 24. Dezember ist und die letzten Stunden noch nach hängen.
Dieses Jahr hat Lisa zum ersten Mal mit ihrem Freund Weihnachten gefeiert. Ganz beschaulich, ganz friedlich und ruhig – es war ungewohnt für sie, weil sie sonst eher größere Familienfeiern gewohnt war. Doch heute drehte sich nicht alles um die Kinder – heute drehte sich alles um sie.
Dementsprechend verlief die Feier. Für Lisa war ein kleiner Weihnachtsbaum völlig ausreichend, sie haben keine Weihnachtslieder gesungen oder ähnliches, stattdessen haben sie es sich mit je einem Glas Wein bequem gemacht. Selbst die Bescherung war überschaubar, zumindest, was die Anzahl der Geschenke anging.
Es war wunderschön.
Aufräumen muss sie jetzt trotzdem. Sie hat die komplette Weihnachtsdeko eingesammelt und im Karton verstaut, den sie nun in den Keller trägt. Dabei hätte sie absolut kein Problem damit, noch ein paar Tage lang in Weihnachtsstimmung zu bleiben. Wäre da nicht das Geschenk…
Ihr Freund hat ihr eine Reise geschenkt. Und auf einmal war ihr egal, dass er ein Weihnachtsmuffel ist und davon sprach, dass er am liebsten auf den ganzen Weihnachtsquatsch verzichten würde. Sie tun es, er erspart sich die zwei Weihnachtsfeiertage. Im Gegenzug dafür bekommt Lisa eine Reise und da verzichtet sie sehr gerne auf Weihnachtsstimmung.
Morgen ist es soweit. Morgen fahren sie los. Und da auch sie keine Lust darauf hat, nach Weihnachten in eine weihnachtlich geschmückte Wohnung zurückzukehren, räumt sie auf.
Alleine. Ihr Freund musste in die Arbeit, eine letzte Nachtschicht vor dem Urlaub – schön zwischen die kleine Weihnachtsfeier und die Reise gedrückt.
Deshalb ist sie so glücklich. Hinter ihr liegt ein traumhafter Abend, vor ihr ein garantiert fantastischer Urlaub…
Sie wird aus ihren Gedanken gerissen, im wahrsten Sinn des Wortes. Denn plötzlich ist da eine Hand in ihren Haaren und packt zu und reißt ihren Kopf ein Stück nach hinten. Ein stechender Schmerz zuckt durch ihre Kopfhaut, sie schreit auf.
Die Freude ist vergessen, ein ganz anderes Gefühl hat nun das Kommando übernommen: Angst, panische Angst. Was soll sie tun?
Lisa versucht, sich zu drehen, um einen Blick auf den Angreifer zu erhaschen – diese Info würde ihr zumindest ein bisschen weiterhelfen. Würde ihr zeigen, ob es sich rentiert, sich zu wehren...
Warum hat sie nichts mitbekommen? Immer wenn sie durch das Treppenhaus läuft, achtet sie darauf, ob sie jemanden kommen hört – eigentlich noch nicht mal aus Angst, sondern hauptsächlich deswegen, weil sie keine Lust hat, mit den Nachbarn zu sprechen. Und auch jetzt hat sie aufgepasst, dachte sie. Derjenige, der sie so rabiat überfallen hat, muss sich extrem unauffällig angeschlichen haben.
Es ist erstaunlich einfach, den Kopf zu drehen. Der Schmerz in der Kopfhaut bleibt, doch er wird auch nicht stärker.
Und dann kommt der nächste Schock: Das Treppenhaus ist leer. Außer ihr ist niemand hier. Nur sie und der Karton, der ihr aus den Händen gefallen ist. Immerhin hat sie schon die letzten Stufen erreicht und der Karton ist auf eine gerade Fläche gefallen, scheinbar ohne dass etwas dabei kaputt ging. Zumindest sieht er noch heil aus.
Was ist hier los? Was ist das?
Sie kann erst einmal nicht weiter darüber nachdenken. Das Ziepen wird stärker, dieses Etwas reißt wieder an ihren Haaren. Und diesmal ist es kein reines Zerren, diesmal ist es zielgerichtet – es wird so fest, dass Lisa die letzten Stufen hinunter stolpert. So wird sie bis zur Haustüre geschleift.
Ihre Augen tränen, sie hat das Gefühl, dass sich bald die Kopfhaut von ihrem Kopf ablöst. Das Wissen, dass das eigentlich nicht gehen kann, hilft ihr auch nicht weiter, das löst nämlich nur den Gedanken aus, dass sie gleich mehrere Haarbüschel verliert, wenn das so weitergeht.
Lisa muss einfach nur kurz einen Arm heben und ihren Kopf abtasten… Aber sie kann nicht. Ihre Arme sind schwer wie Blei. Vorher wäre es ja vielleicht noch gegangen – nach dem ersten Schreck hatte sie die Eingebung, dass ihr etwas auf den Kopf gefallen ist und sich in ihren Haaren verheddert hat. Doch das hat sich durch das Zerren erledigt. Wäre es ein Gegenstand, der sich dort auf ihrem Kopf befindet, würde er sie nicht Richtung Haustüre zerren.
Das muss etwas anderes sein und Lisas Gehirn weigert sich schlichtweg, weitere Erklärungen aufzubringen. Weil diese Erklärungen so schlimm wären, dass sie sie nicht verkraften würde? Reiner Selbstschutz oder blockiert die Angst ihre Gedankenwege?
Das Ziehen hört nicht auf. Sie wird gegen die Türe gezerrt, der Türgriff bohrt sich schmerzhaft in ihre Seite. Sofort greift sie danach, öffnet die Türe und schiebt sich hinaus. Für einen Moment wird das Ziehen schwächer.
Und dann spürt sie es. Nimmt die Formen des Etwas auf ihrem Kopf wahr.
Das ist eine Hand. Lisa spürt den Handrücken, der sich gegen ihren Hinterkopf drückt, spürt verkrampfte Finger, die ebenfalls auf ihrem Kopf ruhen. Diese Finger haben sich wohl in ihre Haare vergraben.
Eine Hand ohne dazugehörigen Mensch. Einfach nur eine Hand, die sie zerrt, ihr wehtut.
Lisas Knie werden schwach, doch es ist keine Zeit für Schwäche. Sie wird weiter gezogen, aus dem Vorgarten hinaus auf die Straße. Und selbst dort lässt der Griff nicht locker. Hilflos stolpert Lisa die Straßen entlang, immer gezogen von dieser Hand.
Merkt das denn keiner? Gibt es niemanden, der beim Fenster hinaus sieht und sie bemerkt? Es muss doch verdächtig aussehen, wie ihre Haare teilweise in der Luft hängen, wie sie mit dem Kopf voran durch die Straßen stolpert.
Offensichtlich nicht. Ihr Weg bleibt menschenleer, keiner kommt ihr zu Hilfe. Und dann kann sie auch kein Anwohner mehr sehen – es geht in den Wald.
Spätestens jetzt wird ihr das alles zu viel. Okay, das ist es schon lange, schon seit dem ersten Ruck, doch jetzt… Das bisschen Ruhe und Besonnenheit, das sie zurückerlangt hat, verpufft nun.
Hier kann ihr wirklich keiner mehr helfen. Was auch immer diese Hand vorhat, niemand wird davon etwas mitbekommen. Keiner sieht sie, keiner hört ihre Schreie.
Diese Erkenntnis weckt ihren Kampfgeist. Sie lehnt sich gegen den Druck, versucht, zurück zu den Häusern zu laufen. Doch es ist nur ein kurzes Auflehnen – ein weiterer Ruck zeigt ihr, warum sie sich das die ganze Strecke über gefallen ließ.
Sie ist chancenlos.
Weiter geht der Weg, über Stock und Stein und nun stolpert Lisa endgültig mehr als sie läuft. Wie sie sich auf den Beinen hält, weiß sie nicht, doch es klappt irgendwie, auch wenn sie sich immer wieder auf dem Boden abstützen muss. Ihre Knie tun weh, ihre Füße, ihre Handflächen, die schon ganz dreckig sind, ihr Kopf sowieso, doch die Hand zeigt kein Erbarmen. Sie gewährt ihr keine Pause, zerrt sie immer weiter, weiter, weiter. Es wird dunkler um sie herum, die Bäume stehen dichter und von den nächsten größeren Straßen ist inzwischen überhaupt nichts mehr zu hören.
Die Angst ist wieder da, hat sie voll im Griff. Und gleichzeitig hält sie sie auch auf den Beinen. Egal was kommt, sie muss laufen.
Zumindest solange, bis das Zerren auf einen Schlag verschwunden ist. Plötzlich hängt die Hand ganz locker in Lisas Haaren, sie spürt ein ganz leichtes Ziepen, doch im Gegensatz zu gerade eben ist das nichts.
Es ist vorbei. Der Weg ist zu Ende und…
Was nun?
Hier ist es etwas heller, zwischen den Bäumen ist mehr Abstand und so kann mehr Sonnenlicht durch die Baumwipfel dringen. Erst jetzt schafft Lisa es, sich umzusehen, ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen – bis gerade eben hat sie sich nur auf den Boden unter ihren Füßen konzentriert, für alles andere war keine Zeit hier.
Sie ist alleine. Außer ihr und der Hand ist niemand hier. Es ist fast schon schön hier – es wäre schön, wenn sie nicht unter so skurrilen Umständen hier gelandet wäre. Und was sie noch davon abhält, die Stelle schön zu finden…
Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken, ihr Herz fühlt sich an, als hätte sich eine eiskalte Hand darum geschlossen. Sie hat wieder Angst, doch irgendwie ist es ganz anders als zuvor.
Als wäre es nicht ihre eigene Angst.
Die Hand legt sich an ihren Hinterkopf, sie spürt die Knöchel, die sich gegen ihren Schädelknochen drücken. Intuitiv macht sie einen Schritt zur Seite.
Und dann sieht sie, warum sie hier ist – was hier so merkwürdig ist, was dem Platz die unschuldige Schönheit raubt.
Von hier aus kann sie an den Büschen vorbeiblicken, die direkt vor ihr wuchern. Von alleine macht sie noch einen Schritt zur Seite, um ihr Blickfeld noch weiter zu vergrößern, doch schon der erste Blick hat gereicht, um zu erkennen, was sich dort hinter den Büschen verbirgt.
Ein Körper. Hinter den Büschen liegt ein lebloser Körper.
Die eiskalte Hand um ihr Herz packt noch fester zu, sie schluckt.
Es ist ein kleiner, schmaler Körper, der Körper eines Mädchens oder einer jungen Frau, so genau kann Lisa ihr Alter nicht einschätzen. Ihre Haut ist blass, fast schon weiß, unter den Augen hat sie sehr dunkle Augenringe. Ihre blonden langen Haare liegen wie ein Teppich um ihren Kopf herum – es wirkt wie ein Heiligenschein. Sie trägt ein blaues, geblümtes Kleid und darüber eine dunkelblaue Jacke, die offen steht.
Dann gleitet Lisas Blick zu ihren Armen und der Kloß in ihrem Hals wird noch größer.
Eine Hand des Mädchens liegt schlaff neben ihr, sogar von hier aus erkennt Lisa den farblich perfekt zum Kleid passenden hellblauen Nagellack an ihren Fingernägeln. An ihrem anderen Arm ist… nichts. Das Handgelenk ist ein blutiger Stummel, die Hand fehlt.
Lisas Augen brennen, sie spürt, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen laufen. Die Angst ist wie weggeblasen, sie fühlt nur Trauer – eine unendliche Schwere.
Die Hand beginnt, ihren Kopf zu tätscheln. Ganz sanft und liebevoll und irgendwie… dankbar.
Unser Buchtipp
Onkel Montague ist ein komischer alter Kauz. Er lebt mit seinem Diener Franz in einem düsteren Haus mit einem Garten, der an einen Friedhof erinnert. Edgar besucht Onkel Montague jeden Tag, obwohl der Weg durch einen unheimlichen Wald führt. Aber Onkel Montague ist einfach der beste Geschichtenerzähler! Bei flackerndem Kaminfeuer erzählt er so Gruseliges, dass Edgar eine herrliche Gänsehaut über den Rücken läuft. Aber woher kennt Onkel Montague all die Geschichten, und ist es wirklich nur Zufall, dass Gegenstände, die in den Geschichten vorkommen, in seinem Haus zu finden sind?