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2. Advent: Weihnachtsbesuch

2. Advent

Weihnachten, das Fest der Liebe, das Fest, an dem man seine Liebsten um sich versammelt.
Doch manchmal mischt sich ein ungewünschter Besucher unter die Festgemeinde.
Horror zum Advent.
Jeden Sonntag gibt es einen neuen Besuch.

Nichts für schwache Nerven!

Auf einen Schlag ist es ruhig in Kevins Wohnung. Er schließt die Wohnungstüre und es ist ruhig, einfach nur ruhig. Nur das Geräusch des Straßenverkehrs ist zu hören, das Summen seines Kühlschranks…
Es tut gut. Auch wenn Kevin echt glücklich ist und das vor allem an dem lag, was den Lärmpegel verursacht hat, tut es ihm gut, jetzt rein gar nichts zu hören, abgesehen von den kleinen Alltagsgeräuschen, die sich problemlos ausblenden lassen.
Kevin kehrt ins Wohnzimmer zurück, er steigt dabei über Flaschen, die in der ganzen Wohnung verteilt stehen. Mit Ordnung haben es seine Freunde nicht so, aber das ist in Ordnung, er ja auch nicht und wenn er morgen ausgeschlafen hat, irgendwann am Spätnachmittag vermutlich, geht er halt mit einem Müllsack durch die Wohnung und sammelt alles ein. Kein Problem, Hauptsache, sie hatten Spaß – und den hatten sie.
Im Gehen knöpft er seine Jeans auf, dann streift er sie sich von den Beinen und lässt sie einfach auf den Boden fallen. Kann er ebenfalls morgen aufheben, jetzt will er einfach nur den einengenden Stoff loswerden.
Im Wohnzimmer sieht es jetzt, wo es menschenleer ist, katastrophal aus. Auch hier stehen überall Flaschen herum, dann sind da noch die ganzen Teller, leere Packungen von irgendwelchen Süßigkeiten, irgendwelche anderen Verpackungen… Seine Freunde haben ganze Arbeit geleistet, in dem geringen Rahmen, den Kevin ihnen geboten hat, Chaos zu hinterlassen.
Und trotzdem kann und will er nicht wütend sein. Er selbst war ja auch nicht besser, er hat fleißig mitgemacht bei der Müllproduktion. Hätte er etwas dagegen gehabt, hätte er schon sein Veto eingelegt, das hat ja bei der Wohnungseinrichtung auch geklappt. Alle Möbel stehen auf ihrem Platz, unbeschädigt, soweit Kevin das sieht und das hat er seinem Veto zu verdanken.
Mann, was für eine Party…
Weihnachten hat ihn in den letzten Wochen ziemlich angekotzt. Seine Freundin hat schon im November davon geredet, dass sie unbedingt ihre Familie besuchen müssen und als es ihm gereicht hat und er ihr klipp und klar gesagt hat, dass er darauf keinen Bock hat, wurde sie hysterisch. Wäre ja vielleicht noch gut gegangen, wenn nicht kurz darauf seine Affäre aufgeflogen wäre…Da war es dann endgültig vorbei mit ihnen. Sie hat ihre Sachen gepackt und ist zu ihren Eltern gezogen.
Aber jetzt, jetzt sieht die Welt wieder anders aus. Kevin wurde nicht dazu gezwungen, einen auf glückliche Familie zu machen – er hat Weihnachten so gefeiert, wie er wollte, wie es ihm Spaß macht. Mit mehreren Freunden, die ebenso sehr auf ein beschauliches Weihnachtsfest verzichten konnten wie er. Sie haben sich einen feuchtfröhlichen Abend gemacht und beides, sowohl das ‚feucht‘ als auch das ‚fröhlich‘, hängt nun nach.
Kevin lässt sich auf seine Couch fallen, die Beine so weit ausgestreckt, dass er sich beinahe am Couchtisch stößt. Diese Freiheit… Göttlich.
Trotzdem wird er morgen seine Freundin anrufen. Sie sollte sich wieder beruhigt haben und Kevin ebenfalls. Ja, sie kann wieder zurückkommen, das passt schon. Also, wenn sie sich beruhigt hat. Als hysterische Kuh kann er sie hier nicht brauchen.
Er wird aus seinen Gedanken gerissen, weil er etwas spürt. Jemand tippt ihm an die Schulter.
Ha, ha. Sehr lustig. Er hätte doch eine Liste machen sollen mit all seinen Gästen, um sie am Ende der Feier abzuhaken und so zu sehen, ob alle draußen sind. Zugegebenermaßen hat er bei den Verabschiedungen den Überblick verloren – er weiß nicht genau, wer wann und mit wem gegangen ist, da ist es kein Wunder, dass er offensichtlich jemanden übersehen hat.
Kevin dreht sich um, will den Witzbold, der hinter der Couch lungert und ihn einfach so anstupst, anschnauzen. Doch hinter der Couch ist niemand.
Erst auf dem zweiten Blick fällt es ihm auf. Auf seiner Schulter liegt eine Hand.
Nur eine Hand. Kein Arm dazu, kein Körper, nichts. Ein Stück des Handgelenks und eben eine Hand, mit Fingern und allem, was so dazu gehört.
Er zuckt zusammen – er meint zu sehen, wie sich die Finger der Hand verkrampfen und sie sich so an seiner Schulter festhält.
Scheiße, was ist das? Ist das ein kranker Witz von einem seiner Freunde? Ralle hat einen verdammt eigenartigen Humor, da kann das schon gut sein. Andererseits würde Ralle nicht so weit gehen. Er könnte vermutlich nicht einmal so weit gehen und eine so gut steuerbare Hand in seine Wohnung schmuggeln. Wo sollte er so etwas her bekommen?
Panisch starrt Kevin auf die Hand, beobachtet hilflos, wie sich der dünne Zeigefinger hebt und dann wieder auf seine Schulter senkt. Gleichzeitig bemerkt er das Tippen und irgendwie fühlt es sich fast schon surreal an, wie gut das, was er sieht, zu dem passt, was er fühlt, denn sein Gehirn ist so überfordert mit dem Bild, das sich ihm bietet, dass es dieses Bild erst einmal als ‚nicht wahr‘ eingestuft hat.
Es ist wahr. Sonst würde er ja wohl nicht das Tippen spüren.
Von der Entspanntheit ist absolut nichts mehr übrig geblieben, Kevin sitzt stockstarr auf der Couch. Sein Nacken beginnt allmählich zu schmerzen, weil er den Kopf zur Seite gedreht hat und dabei etwas von der Hand weg bewegt, so weit wie möglich.
Was ist das?
Sein Gehirn liefert keine Antwort, es ist absolut blank. Das kann er sich nicht erklären, dafür gibt es wirklich keine Erklärung.
Wieder hebt sich der Zeigefinger, wieder senkt er sich auf seine Schulter. Doch diesmal verharrt er dort, so weit hinten, dass Kevin den hellblauen Fingernagel nicht mehr sieht.
Hellblau, woher weiß er das? Warum achtet er auf so etwas?
Ist aber auch egal, als der Finger Druck ausübt und sich in seine Schulter bohrt. Der Schmerz, der Kevins Körper durchzuckt, ist so präsent, ist so real, dass er Schweißausbrüche bekommt.
Wie soll er sich wehren? Was will diese Hand von ihm?
Und als hätte sie das mitbekommen und als könnte sie Gedanken lesen, huscht ein Gedanke durch sein Gehirn. ‚Steh auf‘. Der Finger, der noch fester zudrückt, unterstreicht diese Nachricht und selbst wenn er die Gedankenübertragung anzweifelt, muss er aufstehen, um dem Bohren zu entkommen – wenn etwas hilft, dann nur aufstehen.
Kevin wankt, als er auf die Beine kommt. Bevor er umfällt, schafft er es gerade noch, sich an dem niedrigen Couchtisch festzuhalten. Doch die Hand bleibt, wo sie ist und nun meint Kevin auch noch, etwas auf seinen Rücken tropfen zu spüren.
"Blut, du Affe.‘"– wieder ein Gedanke, der einfach so durch seinen Kopf schießt und Kevin reißt die Hände nach oben, um sie gegen die Schläfen zu pressen.
Hilft nichts. Er meint, immer noch das höhnische Gelächter vernehmen zu können, das nur in seinem Kopf existiert.
„Was willst du von mir?“
Seine Stimme zittert ebenso sehr wie seine Beine. Er hat Angst, panische Angst – diese Hand, die dort an seiner Schulter hängt, gehört dort nicht hin, hat dort ganz klar nichts zu suchen und trotzdem bleibt sie dort und er hat nicht den Mut, sie wegzuschlagen.
Keine Antwort. Klar, wie denn auch? Die Hand hat schließlich keinen Mund. Aber ganz so klar ist das dann doch nicht, sie hat ja auch keine Beine und hat es trotzdem geschafft, zu ihm zu gelangen. Wie sollte sie sich ohne Beine fortbewegen?
Zu seinem Leidwesen beantwortet seine Fantasie diese Frage umgehend. Vor seinem geistigen Auge taucht ein Bild davon auf, wie die Hand über den Boden krabbelt, wie eine sehr eigenartige Spinne. Und obwohl die Situation gerade echt übel ist, ist er ein bisschen erleichtert – dieser Anblick wäre noch schlimmer gewesen als das, was hier passiert.
Aber wer oder was steuert die Hand? Ein Gehirn hat sie ja auch nicht, sie kann einfach nicht alleine unterwegs sein.
Ist das Karma?
„Ich… Ich bessere mich!“
Das Drücken lässt nicht nach, Kevin stolpert einen Schritt nach vorne. Die Worte stolpern ebenso aus seinem Mund.
„Ich werde mich mit meiner Freundin versöhnen, das hatte ich sowieso vor. Ich weiß, dass ich sie nicht gut behandelt habe.“
Keine Veränderung. Der Druck bleibt und Kevin hat das Gefühl, dass ihm der Schweiß in Sturzbächen über das Gesicht läuft, doch als er sich über die Stirn wischt, stellt er fest, dass es sich in Grenzen hält.
„Ich sage ihr, dass alles in Ordnung ist, dann wird sie schon zurückkommen.“
Kurz hebt sich der Finger, Kevin atmet gut hörbar auf. Aber die Erleichterung hält nur ein paar Sekunden, dann legt sich der Finger auf eine Stelle wenige Millimeter neben der vorherigen und übt wieder Druck aus. Intuitiv macht er einen weiteren Schritt nach vorne, stößt sich dabei fast das Knie am Couchtisch.
„Ich fahre zu ihren Eltern, dann wird sie mir verzeihen. Wird zwar echt nervig, aber um sie zurückzubekommen… Immerhin musste ich Heiligabend nicht dort sein. Und wenn du das so willst...“
Seine Stimme klingt immer weinerlicher, stellt er fest. Und das Gefühl in seiner Brust, in seinem Hals… Er fühlt sich elend. Verdammt, er ist ein schlechter Mensch und das vor allem der Person gegenüber, die ihn liebt, aus freien Stücken, nicht, weil sie mit ihm verwandt ist. Wenn man es genau nimmt, war er nie wirklich freundlich zu ihr, wurde im Laufe der Zeit immer herablassender und hat sich über ihre Beziehung gestellt. Trotzdem hat sie ihn bis vor kurzem nicht verlassen, hat ihn immer geliebt.
Diese Gedanken und der fortwährende Druck treiben ihn zu einer weiteren Einsicht.
„Okay, ich werde auch nicht so tun, als wäre sie schuld. Ich werde ihr nicht den Vorwurf machen, dass ich sie nicht betrogen hätte, wenn sie mich nicht ständig abgewiesen hätte.“
Genau das hatte er bis gerade eben vor. Das hat er sich vorher schon überlegt, als ihm klar wurde, dass er sie gerne zurückholen würde, wenn die nervige Weihnachtszeit vorbei ist und auch als ihm die Hand deutlich gemacht hat, dass er sich mit ihr versöhnen muss, waren das seine Gedanken. Denn verdammt, er fühlt sich unschuldig. Was sollte er schon tun in seiner Situation?
Doch allmählich wird ihm klar, dass er damit in sein altes, ungutes Muster verfällt. Ihr wehtun und ihr die Schuld dafür geben… Das kann er nicht tun. Und dass es eine Hand, eine abgetrennte Hand ohne Körper, gebraucht hat, damit er das erkennt, ist echt erbärmlich.
Das bittere Gefühl wird noch stärker. Doch ungeachtet dessen presst sich der Finger weiterhin gegen seine Schulter.
„Ich werde auch der Affäre sagen, dass Schluss ist. Ich habe sie ja jetzt schon ein paar Tage lang nicht mehr gesehen, ich brauche sie nicht. Aber meine Freundin brauche ich. Ich liebe sie doch. Und ich muss netter zu ihr sein, ich weiß.“
Immer noch keine Gnade. Er schafft es einfach nicht, es der Hand recht zu machen und allmählich verzweifelt er daran.
Was? Was ist es noch? Was hat er noch falsch gemacht, worauf möchte sie ihn noch hinweisen?
„Was soll ich tun?“
Das konsequente Drücken der Hand lenkt ihn Richtung Fernseher, Kevin bahnt sich seinen Weg durch die Flaschen- und Müllberge. Dann erblickt er das Telefon, das auf dem Fernseher steht.
„Soll ich sie anrufen?“
Der Finger drückt weiter, schiebt ihn somit am Fernseher vorbei.
„Okay, also auch nicht…“
Seine – immer noch ziemlich wackeligen – Schritte führen ihn bis zum Fenster, dort hält die Hand inne. Kevin zieht den Vorhang zur Seite, er blickt hinaus.
Nichts zu sehen, zumindest nichts Ungewöhnliches. Der Ausblick ist der gleiche wie gestern, vorgestern – vielleicht nicht wie immer, in den Fenstern auf der anderen Straßenseite hängen Lichterketten.
Dann hört er es wieder. Ganz leise, ganz tief in seinem Kopf eine Stimme. Sie ist sanft, sie klingt so, als würde der Wind sie wegwehen.
„Hinaus.“
Endlich. Endlich eine Anweisung. Kevins Hand schnellt nach vorne, er öffnet sofort das Fenster.
Der Luftzug, der ihm um die Ohren bläst, ist frisch, aber es fühlt sich gut an. Befreiend, irgendwie, so wie die Anweisung gerade eben. Endlich weiß er, was er tun soll, endlich!
Der Finger stupst ihn wieder, das Stupsen wird energischer, als er auf die Fensterbank klettert.
Es hört selbst dann nicht auf, als er sich fallen lässt.
….. gespannt auf den nächsten Besuch? Nächsten Sonntag geht es weiter!

Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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