Ramón

Kürbis Herbstgemüse mit Gruselfaktor » Ramón der Stripper

Eine lange Nacht im Rotlichtmilieu.
Auf den Spuren eines Verbrechens findet Chimi einen Freund. Spannender Krimi mit überraschender Wendung.

"So. Fertig."
Chimi drückt ganz schwungvoll auf den Senden-Pfeil in seinem Handy. So schwungvoll, dass er gegen die Wand prallt. Aber das ist nicht wild, er schwankt schon die ganze Zeit beim Laufen hin und her und hat dementsprechend schon öfter mit der Wand Bekanntschaft gemacht. Ist eine gute Wand, hat ihm immer Rückhalt gegeben. Oder Seithalt oder so.
Und Rückhalt, den braucht er. Nicht nur, weil er sich beim Schreiben nicht darauf konzentrieren konnte, geradeaus zu laufen - er führt hier eine extrem wichtige Diskussion und außer der Wand steht niemand hinter ihm. Oder neben ihm. Auch nicht im bildlichen Sinne.
Die Diskussion ist nun beendet. Er ist zu Hochformen aufgelaufen und hat gerade das Totschlagargument geliefert. Vielleicht sollte er, wenn er schon so in Form ist, sich selbst eine Nachricht schreiben, warum diese Diskussion wichtig war... Chimi weiß genau, dass sein nüchternes Ich von morgen Früh wieder von seinem betrunkenen Ich - also sein aktuelles Ich - genervt sein wird. Wenn er betrunken ist, diskutiert er nämlich verdammt gerne - viel zu gerne, wenn es nach seinem nüchternen Empfinden geht.
Nein, die Nachricht an sich selbst ist nicht nötig. Das ist eine unglaublich wichtige Diskussion, nicht so etwas wie... Was war gleich noch mal seine letzte Diskussion? Dürfte die mit den Delfinen gewesen sein - ob Delfine nun gut oder böse sind. Aber diese Diskussion gerade eben war schon wichtig. Seine Freunde, mit denen er bis vorher auf der Halloweenfeier war, haben ihm nämlich den ganzen Abend vorgeworfen, dass er die Verkleidungsaufforderung nicht ernst genommen hat.
Nicht ernst genommen, ha. Nur weil Chimi nicht stundenlang Kostüme genäht und Schminke aufgetragen hat, so wie alle anderen in dem Laden, in dem die Feier stattgefunden hat. Und weil sie ihn nicht ausreden ließen und es ihm eh egal war, weil er in den Laden gekommen ist und das das einzig Wichtige an seinem Kostüm war, musste er jetzt die Diskussion abschließen. Jetzt, wo er betrunken genug dafür ist und auf dem Weg durch die Stadt eh genügend Zeit hat.
Nur weil er sich als Frankenstein verkleidet hat... Dass alle, die sich als sein Monster verkleiden, nicht so originalgetreu sind wie Chimi, steht doch fest. Und dass er es sich zu leicht gemacht hat, lässt er auch nicht gelten. Frankenstein ist eine Horrorfigur und jeder, der gebildet ist, weiß, dass nicht das Monster, sondern Frankenstein himself das wahre Monster war.
Aber jetzt ist das geklärt und Chimi kann beflügelt weiterlaufen.
Wo er entlang läuft, ist nebensächlich. Er hat das Bedürfnis zu laufen und wenn dieses Bedürfnis abgeklungen ist, ruft er sich einfach ein Taxi und fährt nach Hause.
Eine Hand reißt ihn aus seinen Gedanken, aus seiner Trance, und befördert ihn wieder in die Straße, durch die er gerade läuft. Diese Hand legt sich nämlich auf seinen Po und als Chimi zur Seite sieht, erblickt er den dazugehörigen Mann.
Scheinbar auch ein Halloween-Partygänger und zwar einer, der sich bei seiner Kostümierung doch etwas mehr Mühe gegeben als Chimi, der sich für ein ganz normales Outfit, bestehend aus Jeans und T-Shirt, entschieden hat. Der andere Mann ist nämlich komplett schwarz angezogen und hat die Kapuze seines Pullis so über den Kopf gezogen, dass sein Gesicht in einem Schatten liegt. Nur sein Mund ist sichtbar - dünne Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen haben und ganz weiße, gerade Zähne offenbaren.
Trotzdem ist ziemlich eindeutig, dass er ein Mann ist. Schon seine Statur spricht dafür - er ist etwas größer und breiter als Chimi.
Chimi erwidert das Lächeln, dann beschleunigt er seine Schritte, so dass die Hand des Fremden wieder von seinem Po rutscht.
"Kein Interesse, sorry."
Sofort holt der andere wieder auf. Doch seine Hand lässt er diesmal bei sich.
"Schade." Seine Stimme ist knurrig, knarzig - er klingt, als würde er täglich mehrere Packungen Zigaretten rauchen. Und das ist dann auch erst einmal der letzte Eindruck, den Chimi von dem Fremden hat. Er läuft los und lässt Chimi hinter sich liegen. Chimi sieht ihm hinterher, sieht ihm dabei zu, wie er ein paar Häuser weiter einen Club betritt. Sofort sieht Chimi nach oben, um die Leuchtreklame über dem Eingang zu mustern.
Ah, ein Stripclub. Mit dem bezaubernden Untertitel "Von Männern für Männern". Das erklärt dann auch den Annäherungsversuch - er ist im Schwulenviertel gelandet.
Jetzt sollte er aber wirklich schauen, dass er nach Hause kommt. Wenn er wirklich im Schwulenviertel ist, ist seine Wohnung ein gutes Stück entfernt und auch wenn er noch Bock auf Laufen hat, sollte er doch mal seine Schritte in die richtige Richtung lenken.
Okay. Laufen. Zielgerichtet laufen. Chimi schiebt also sein Handy in die Potasche seiner Jeans. Nicht in die linke, da ist sein -
Halt. Da sollte sein Geldbeutel sein, aber er spürt nichts. Auch nicht, als er die betreffende Hosentasche abtastet.
Nichts. Da ist nichts. Aber er hatte seinen Geldbeutel vorher noch, da ist er sich ganz sicher. Er überprüft immer seine Taschen, wenn er einen Club verlässt - da kann er noch so betrunken sein, das ist inzwischen Routine.
Es gibt nur eine Möglichkeit, wohin der Geldbeutel verschwunden ist. Nämlich in die Hand, die ihn vorher getätschelt hat.
Der Kerl wollte ihm gar nicht an die Wäsche - er wollte nur sein Geld.
Chimi braucht nur wenige Sekunden, um den daraus resultierenden Entschluss zu treffen. Er rennt los, rennt zu dem Club, in den der Dieb gerade verschwunden ist.
Erst dort stellt er fest, dass davor mehrere Sicherheitsmänner stehen, die offensichtlich auch den Eintritt kassieren. Nur dumm, dass er kein Geld hat...
Ist dann aber gar nicht nötig. Der bulligste der Muskelmänner nickt ihn einfach durch. Scheinbar hat er ihn gerade mit dem Dieb gesehen und geht davon aus, dass er zu ihm gehört.
Im Inneren des Clubs muss sich Chimi erst einmal an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnen. Dunkel ist es hier drinnen auch, aber nun kommen Blitzlichter und so etwas hinzu. Verdammt anstrengend.
Er schafft es gerade noch rechtzeitig, um eine schwarze Gestalt zu entdecken, die sich ganz galant durch die tanzenden Körper drängelt, ohne dabei an allzu viele zu stoßen. Und die, die er dabei erwischt, reagieren einfach nicht, sondern tanzen weiter.
Na dann... Hinterher.
Bei Chimi geht es nicht ganz so einfach. Er bleibt gefühlt an jedem einzelnen Besucher hängen, immer wieder hört er ein empörtes "Pass doch auf!" oder "Ey, geht's noch?". Immerhin erspäht er durch eine Lücke wieder den Dieb, der inzwischen einen Tresen zwischen sie gebracht hat und gerade durch die Türe dahinter verschwindet.
Okay, Tresen. Das ist ein gutes Ziel. Als er den Kopf hebt, sieht er nämlich, dass das der Tresen ist, auf dem mehrere Männer stehen und tanzen. Sieht man auch von hier unten aus gut und lässt sich deshalb leicht ansteuern.
Nach weiteren Minuten Drängelei, Zurückrempelei und Moserei hat Chimi es dann endlich geschafft. Erschöpft lehnt er sich an den Tresen, er muss jetzt erst einmal durchschnaufen. Mann, ein Drink, das wär's jetzt... Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Sein Geldbeutel steht an erster Stelle. Sobald er ihn sich zurückgeholt hat, kann er sich einen Drink gönnen. Oder mehrere.
Chimi hebt den Kopf und verschafft sich einen Überblick über die Lage. Sieht gar nicht mal so schlecht aus - ihm gegenüber ist die Türe, durch die der Dieb verschwunden ist. Daran hängt ein "Nur für Mitarbeiter"-Schild.
Okay, wenn er da nicht rein darf... Dann fragt er halt einen der Kollegen des Räubers. Und die, die am leichtesten aufzufinden sind, sind die Tänzer.
Direkt neben ihm auf dem Tresen befindet sich ein Paar tanzender Beine. Chimi sieht an ihnen entlang nach oben und erblickt nur ein einziges Stückchen Stoff - eine schwarze, enge Unterhose mit Kürbiskopf.
Sehr irritierend. Wie hypnotisiert bleibt Chimis Blick an dem sich hin und her bewegenden Kürbiskopf hängen - sein Träger schwingt ganz fleißig seine Hüften hin und her.
Dann streckt Chimi seine Hand aus und stupst den Tänzer am Bein an. Und überraschenderweise beugt er sich sofort zu ihm herunter.
"Na, Hübscher? Was kann ich für dich tun?"
Also, das mit dem 'Hübscher' kann er umgehend zurückgeben - auch wenn man das hier wahrscheinlich zu jedem Gast sagt. Der Tänzer hat ein ebenmäßiges Gesicht, das ebenso wie mit Bronze oder Gold oder so etwas übergossen wirkt wie sein Körper, seine Lippen sind voll und echt schön geschwungen, seine braunen Augen haben etwas Unschuldiges, Nettes. Er könnte jederzeit als Model arbeiten, wenn er nicht gerade in diesem Loch tanzt.
Gut, Loch ist vielleicht übertrieben, es sieht nicht unbedingt schäbig aus hier drinnen. Aber wenn sie hier einem Dieb Unterschlupf gewähren, ist der Laden halt doch nicht ganz so sauber.
"Hast du den Mann gesehen, der gerade da hinten durch die Türe ist?"
Nun runzelt sich die Stirn des Tänzers. Kurz wandert sein Blick nach hinten, dorthin, wo Chimi hinzeigt.
"Ja. Das war der Boss."
Der Boss also... Der hat es nötig, trotz eines gut laufenden Ladens zu stehlen? Der Club sinkt in Chimis Anerkennung noch weiter.
"Kann ich mit ihm sprechen?"
Die Runzeln in der Stirn des Tänzers werden noch tiefer.
"Kennst du ihn?"
Chimi schüttelt den Kopf.
"Er hat meinen Geldbeutel gestohlen. Und ich will ihn mir zurückholen."
Auf einen Schlag weiten sich die Augen des Tänzers, er beugt sich noch weiter zu ihm herunter, was ein paar Meter weiter mit Gejohle begrüßt wird.
Seine Stimme klingt nun nicht mehr nach einem Schnurren, sondern flehend.
"Tu' es nicht."
Trotzig verschränkt Chimi die Arme. Also bitte, er lässt sich nicht einfach so ausrauben und lässt dann den Täter entkommen.
Als der Tänzer das bemerkt, wird seine Stimme noch flehender.
"Bitte, tu' es nicht. Das ist El Diablo, er... Er hat sich nicht umsonst so genannt. Er ist gefährlich.“
Ungläubig sieht Chimi zu dem Tänzer hinauf. Sein Lächeln ist nur noch Fassade, doch seine Augen sprechen eine eindeutige Sprache. Er meint das ernst.
Doch dann werden sie unterbrochen. Das Gejohle hinter dem Tänzer wird zu einem Schimpfen, es ist ganz deutlich ein "Geht's endlich weiter?" zu vernehmen. Der Tänzer wirft ihm einen letzten Blick zu, halb flehend, halb entschuldigend, bevor er sich aufrichtet und seine Tanzeinlage fortsetzt.
Macht er ja wirklich nicht schlecht... Er bewegt sich ganz geschmeidig - würde Chimi versuchen, so zu tanzen, würde er sich seine Hüfte ausrenken.
Lenkt ihn allerdings auch nicht davon ab, dass er gerade eben beklaut wurde. Und wenn der Tänzer nicht seinen Chef zu ihm holt, dann...
Chimi stützt die Arme auf dem Tresen ab, er versucht, sich auch darauf zu hieven. Klappt auch, nur liegt er dann erst einmal wie ein nasser Sack auf dem Holz. Wenn die Tänzer auch so auf den Tresen klettern, ist das ziemlich geschäftsschädigend. Ah nein, jetzt sieht er, dass auf der anderen Seite des Tresens kleine Stufen sind. Gut zu wissen.
Weiter kommt er jedoch nicht. Eine Hand packt ihn im Nacken und er blickt wieder in die rehbraunen Augen des Tänzers. Nun hat sich auch ein bisschen Wut in seinen Blick gemischt - doch hauptsächlich ist er immer noch besorgt.
"Was machst du denn da?"
"Ich muss zu El Diablo!"
Der Tänzer seufzt schwer, dann beugt er sich so weit zu Chimi herunter, dass sich ihre Stirne fast schon berühren.
"Ich weiß, es ist schwer, aber bitte verzichte darauf, dir deinen Geldbeutel wiederzuholen. Ist besser für dich - so kommst du besser davon."
Mit diesen Worten schiebt er Chimi vom Tresen herunter, bis er wieder auf dem Boden steht. Dann führt er sein Tänzchen fort.
Okay, es gibt ja immer wieder die Geschichten, dass Clubbesitzer irgendwie mit der Mafia zusammenhängen, vor allem hier, in dieser Stadt. Und wenn sich einer El Diablo nennt und willkürlich Leute auf der Straße überfällt...
Chimi sieht zu dem Tänzer hoch und bemerkt, wie dessen Blick immer wieder zu ihm hinüber wandert. Gut, wenn er meint...
Erneut stupst er ihn am Bein an, erstaunlicherweise bückt er sich erneut sofort zu ihm herunter.
"Kann ich dann wenigstens auf seine Kosten trinken?"
Nun lacht er. Nicht nur sein Mund - das Lachen erreicht auch seine Augen.
"Klar. So viel du willst."

Ein, zwei Stunden später…
"Mann, was machst du denn hier?"
Als Chimi den Kopf hebt, sieht er den Tänzer auf der anderen Seite des Tresens stehen. Nicht sein Tresen - das ist der Tresen, an dem Getränke ausgeschenkt werden. Als der Tänzer ihn weggeschickt hat, hat Chimi es sich hier bequem gemacht und sich wie besprochen ein paar Drinks gegönnt. Vielleicht ein paar zu viele... Sein Kopf ist schwer und sein Körper auch.
Der Tänzer hat nun wesentlich mehr an. Zumindest obenherum - mehr sieht Chimi von seinem Platz aus nicht. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer Rockband, die Chimi nicht kennt.
"Trinken. So wie du es gesagt hast."
Kurz starrt ihn der Tänzer fassungslos an, dann schlägt er sich gegen die Stirn.
"So habe ich das doch nicht gemeint. Ach, scheiße."
Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet wieder. Chimi schließt die Augen und lässt seinen Kopf auf den Tresen sinken.
Als er sie wieder öffnet, steht der Tänzer neben ihm. Er zupft ihn ganz ungeduldig am Ärmel.
"Komm mit nach draußen."
Wie Chimi vorher schon feststellen durfte, ist der Tänzer stärker als er aussieht. Als Chimi nicht umgehend gehorcht, zieht er ihn einfach vom Hocker herunter. Immerhin hält er ihn fest und das ist dringend nötig - Chimi schafft es kaum, sich auf den Beinen zu halten.
Ja, er hat wirklich zu viel getrunken. Aber er war halt frustriert wegen seinem Geldbeutel.
"Warum?"
"Ich bringe dich nach Hause. Wo wohnst du?"
Der Tänzer legt einen Arm um seine Hüfte. So kann er ihn mit sich ziehen, Richtung Ausgang. Chimi befürchtet, dass er nicht mehr die nötige Koordination hätte, um sich zu wehren.
"Warum willst du das wissen? Willst du mich ausrauben?"
Nun stöhnt der Tänzer entnervt.
"Nein. Ich werde dir höchstens den Hals umdrehen, wenn du weiter so dumme Fragen stellst."
Okay, er will seine Adresse also wirklich nur, um ihn nach Hause zu bringen. Trotz seines arg hohen Alkoholpegels bemerkt Chimi, dass der zweite Teil nur ein Scherz sein sollte.
Er lacht.
"Du bist echt lustig."
Wieder ein entnervtes Stöhnen.
"Okay. Sagst du mir jetzt, wo du wohnst?"
"Nö."
Mit einem Lächeln auf den Lippen schließt Chimi die Augen. Das Schimpfen des Tänzers ignoriert er. Er lässt sich einfach mitziehen.
Als er die Augen erneut öffnet, sitzt er in einem Bus. Ist ein ziemlich heruntergekommenes Modell mit zerrissenen Sitzüberzügen und beschmierten Plastikflächen.
Neben ihm sitzt der Tänzer. Er starrt vor sich hin auf die an ihnen vorüberziehende Stadt, seine Miene ist ausdruckslos. Dann bemerkt er, dass Chimi ihn ansieht und er dreht den Kopf zu ihm.
"Wohin fahren wir?"
"Zu mir nach Hause."
Aha. Nachdem er nicht damit herausgerückt ist, wo er wohnt, hat der Tänzer beschlossen, ihn einfach mit zu sich nach Hause zu nehmen.
"Das ist echt nett von dir." Der Tänzer lächelt schwach. Er wirkt ziemlich müde.
Kein Wunder... Es muss ziemlich spät sein und er hat vermutllich die ganze Nacht getanzt.
"Wie heißt du eigentlich?"
"Chimi."
Sie sind nicht die einzigen im Bus, stellt Chimi fest. Weiter vorne sitzen mehrere Hexen - oder halt als Hexen verkleidete Frauen. Scheiß Halloween.
"Ist das ein Spitzname?"
"Ja. Meine Mutter hatte während der Schwangerschaft ständig Heißhunger auf Chimichangas, also hat sie mich Chimichango genannt."
Der Tänzer sieht ihn ungläubig an. Ja, diese Reaktion kennt er. Das muss er sich jedes Mal reinziehen.
"Dein Ernst?"
"Ja. Leider."
Bevor der Tänzer lachen kann, kommt Chimi ihm zuvor. Wird Zeit, dass das 'der Tänzer' in seinem Kopf endlich durch einen Namen ersetzt wird.
"Und du? Wie heißt du?"
"Ramón."
"Ist das auch ein Spitzname?"
Ramón lacht, auf seinen Wangen bilden sich dabei Grübchen. Wirklich ganz herzallerliebst - er versteht, warum Ramón seinen Job als Tänzer bekam. Wenn man auf Männer steht, ist er ein echter Blickfang.
"Ja. Meine Mutter hat mich Ramona genannt - sie hat gesagt, das kann man wunderbar zu 'Ramón' abkürzen und dann merkt keiner, dass ich einen Mädchennamen habe."
"Echt?"
"Nö."
Am liebsten würde Chimi Ramón dafür schlagen. Nur ganz leicht natürlich, aber einen Schlag hat er sich dafür verdient. Doch dann fällt ihm ein, dass er noch irgendwie nach Hause - oder zumindest in ein Bett - kommen sollte und das geht am einfachsten, wenn er es sich nicht mit Ramón verscherzt. Er muss ihm also den Scherz durchgehen lassen.
Apropos Bett: Es gibt eh Wichtigeres. Schlafen zum Beispiel. Chimi bettet also den Kopf auf Ramóns Schulter und schließt wieder die Augen.

Chimi wird nicht etwa von einem zarten Vogelzwitschern und Sonnenstrahlen, die seine Nase kitzeln, geweckt. Nein, ihn reißt ein stechender Kopfschmerz aus dem Schlaf und die Sonne, die unerbittlich auf ihn brennt, hilft ihm auch nicht gerade dabei, sich besser zu fühlen.
Immerhin hat er heute frei. Sonst hätte sein Wecker geklingelt und das wäre dann wirklich unerträglich gewesen.
Nach ein paar Minuten voller Selbstmitleid beginnt Chimi, seine Lage zu analysieren. Also das, was über die Kopfschmerzen hinausgeht. Da ist nämlich noch etwas ganz Markantes.
Er liegt nicht alleine im Bett. An seinem Rücken spürt er einen warmen Körper.
Ganz langsam öffnet er die Augen und die nächste Feststellung folgt auf dem Fuß. Das ist nicht sein Schlafzimmer. Es sei denn, jemand hat umgeräumt und ihm zwei weitere Betten ins Zimmer gestellt. Bisschen kleiner ist es auch und durch das Fenster sieht man nicht etwa den Himmel, sondern eine Wand.
Als er sich etwas aufrappelt, um sich einen besseren Überblick verschaffen zu können, ertönt hinter ihm ein Grummeln, dann bewegt sich die Matratze. Kurz darauf krabbelt jemand am Fußende aus dem Bett und huscht aus dem Zimmer. Das geht so schnell, dass Chimi sich nicht komplett aufrichten konnte, um die Person zu sehen - schnelle Bewegungen sind noch nicht drin, sein Kopf dröhnt immer noch.
Okay, woran kann er sich noch erinnern? An die Halloweenfeier, an dumme Diskussionen, an schlechte Musik, an einen Spaziergang durch die Stadt, an einen Stripclub, an einen Tänzer.
Ah ja, der Tänzer. Der Tänzer, der sich um ihn gekümmert hat.
Sein Verdacht bestätigt sich. Als die Türe wieder aufgeht, kommt Ramón ins Zimmer. Er ist wieder so spärlich bekleidet wie gestern im Club - er hat sogar wieder die Kürbis-Unterhose an, bemerkt Chimi, als er genauer hinsieht.
Natürlich bemerkt Ramón seinen Blick. Er grinst ihn an und lässt kurz die Hüfte kreisen.
"Die hat dir gestern so gut gefallen, also habe ich sie wieder angezogen."
Mit einem Stöhnen lässt sich Chimi wieder zurück in die Kissen fallen. Ja, er hat gestern ziemlich auffällig Ramóns Kürbis angesehen, aber auch nur, weil er so markant war. Mit 'gut gefallen' hatte das nichts zu tun.
Für solche Unterhaltungen ist er noch bereit. Später, so in zwei, drei, zehn Stunden, wenn sein Kopf nicht mehr brummt, vielleicht.
Ramón deutet seine Sprachlosigkeit etwas anders.
"Genug geschlafen. Komm, es gibt Essen."
Tatsächlich riecht er jetzt, wo Ramón ihn darauf hingewiesen hat, den Geruch von... gebratenem Fleisch? Irgendetwas wird hier in der Nähe gebraten, das steht fest. Hat Ramón etwas auf den Herd gestellt oder wohnen hier noch andere Leute?
Wahrscheinlich. Warum hätte er sonst mehrere Betten in diesem Zimmer stehen?
Mit einem Ächzen erhebt sich Chimi aus dem Bett. Dabei bemerkt er, dass er ebenso wenig trägt wie Ramón. Als hätte sein Gastgeber seine Gedanken gelesen, nickt er hinüber zu einem Stuhl neben dem Bett, auf dem Chimis restliche Klamotten ordentlich zusammengelegt sind.
"Du warst so fertig - ich habe dir das Nötigste ausgezogen, bevor ich dich ins Bett gesteckt habe."
Dann war er gestern also wirklich so betrunken, dass sich Ramón richtiggehend um ihn kümmern musste...
"Danke."
Ramón winkt ab, also beschließt Chimi, es auch dabei zu belassen und sich anzuziehen. Dann führt der Tänzer ihn auf einen winzigen Gang, der die Größenordnung einer Speisekammer hat und auch ähnlich voll ist. Dort zeigt er ihm die Türe zum Badezimmer und wartet geduldig, bis Chimi fertig ist.
Ihr nächster Weg führt sie in die Küche und damit zur Quelle der immer intensiver werdenden Gerüche. Auch sie ist ziemlich überschaubar - ein riesiger Esstisch mit einigen Stühlen außenherum füllt fast den ganzen Raum aus.
Und am Herd steht eine kleine, füllige Frau, die sich zu ihnen umdreht, als sie den Raum betreten.
"Na endlich! Hopp, hinsetzen, Essen ist fertig!"
Ramón dirigiert ihn zu einem Stuhl und nimmt neben ihm Platz. Ehe Chimi sich versieht, lädt die Frau eine riesige Platte mit Teigtaschen vor ihnen ab. Das ist definitiv mehr, als sie zu zweit zum Frühstück essen können, denkt Chimi.
Ganz unbeeindruckt schnappt sich Ramón eine der Taschen und beißt hinein. Nach kurzem Zögern tut Chimi es ihm gleich.
Auch wenn es wahnsinnig viel ist - es sieht echt lecker aus.
Als er gerade einen großen Bissen von seiner Tasche nimmt, lässt sich die Frau ihnen gegenüber nieder. Sie richtet sich umgehend an Chimi.
"Und wer bist du? Ramóns Freier?"
Chimi verschluckt sich, Ramón geht es ähnlich. Doch der Tänzer hat den Mund schneller frei als er.
"Mamá!"
Ah, damit wäre also geklärt, wer das ihm gegenüber ist - und auch, welche Art von Wohngemeinschaft ist. Die anderen Betten gehören vermutlich Ramóns Geschwistern.
"Ich habe keine Freier!"
Sie sieht ihn an und es bedarf keiner Worte - auch Chimi als Außenstehender versteht die Botschaft in ihrem Blick.
"Ach ja?"
"El Diablo hat ihm seinen Geldbeutel geklaut. Deshalb habe ich ihn hierher mitgebracht."
Das war genau die richtige Antwort. Der Blick von Ramóns Mutter wird wesentlich weicher, sie seufzt.
"Ach, El Diablo... Ich verstehe nicht, wie du immer noch für diesen Mann arbeiten kannst."
Ganz nebenbei schiebt sie die Platte näher zu Chimi. Scheinbar hat sie Ramóns Erklärung so interpretiert, dass Chimi ihren mütterlichen Schutz braucht.
Die erste Teigtasche war richtig lecker, also nimmt Chimi dankend an.
"Weil er gut zahlt. Nur deswegen können wir uns dieses Haus leisten."
Erst jetzt wird Chimi bewusst, wo er hier gelandet ist. Müsste eine ärmere Gegend sein - alles hier ist etwas spärlich, auch wenn man sieht, dass sich die Bewohner Mühe gegeben haben, ihr Domizil schön herzurichten.
Deshalb arbeitet Ramón also als Tänzer: Um seiner Familie ein Zuhause zu finanzieren.
"Aber der arme Junge... Kannst du nicht mit El Diablo reden?"
Chimi will abwinken, will sie davon abbringen. Für ihn ist der Inhalt seines Geldbeutels überschaubar - es hätte halt Umstände gemacht, all die Karten und Ausweise neu ausstellen zu lassen, doch das Bargeld, das er dabei hatte, ist für ihn eine Kleinigkeit.
Für Ramón, der in wesentlich ärmeren Verhältnissen lebt, geht es jedoch um mehr. Wenn er es sich mit seinem Chef verscherzt, verliert er vielleicht seinen Job und damit auch das Geld für das Haus seiner Familie.
Doch er muss nichts sagen. Ramón kommt ihm zuvor.
"Mamá, ist schon okay."
Kurz sehen sich die beiden böse an, doch das Blickduell gewinnt offensichtlich keiner von ihnen. Um die etwas angespannte Stimmung zu lockern, beschließt Chimi, sich nun auch mal ins Gespräch einzuschalten.
"Die Empanadas ist wirklich sehr gut."
Es hilft. Sofort strahlt ihn Ramóns Mutter an.
"Ramón isst gerne so etwas zum Frühstück. Wenn er wieder die ganze Nacht gearbeitet hat, braucht er am nächsten Morgen etwas Deftiges."
"Kann ich verstehen."
Dass er das verstehen kann, weil es ihm nach einer durchgefeierten Nacht auch so geht, sagt er lieber nicht. Im Moment fühlt er sich dafür echt schäbig.
Für Ramóns Mutter ist die Antwort dagegen völlig ausreichend. Ihr Strahlen wird noch breiter.
"Ramón ist ein guter Junge."
Nun grinst sie ihn vielsagend an. Irritiert sieht Chimi zu Ramón hinüber, doch der verdrückt ganz unbeeindruckt den letzten Bissen seiner Teigtasche - Empanadas also.
Mehr kommt dann auch nicht mehr von seiner Mutter. Immer noch lächelnd steht sie auf und räumt die leeren Schüsseln beiseite.
Als sie beide fertig gegessen haben, steht Ramón auf und bedeutet Chimi, ihm zu folgen. Sie kehren in Ramóns Zimmer zurück, das Chimi nun mit ganz anderen Augen sieht. Das, was für ihn eine winzige Unterkunft war, ist für Ramón ein Luxus, den er sich nur leisten kann, weil er sich Nacht für Nacht von fremden Männern begaffen lässt...
Lange kann er darüber jedoch nicht nachdenken. Ramón holt etwas aus einer Schublade, dann stellt er sich vor Chimi und drückt es ihm in die Hand.
Es ist... Sein Geldbeutel. Wirklich sein Geldbeutel, stellt Chimi fest, als er ihn aufklappt und seine Ausweise darin findet. Alles ist da - sein Führerschein, sein Ausweis, seine Kreditkarten, sogar sein Bargeld.
Überrascht sieht er auf.
"Woher hast du...? Du kannst das doch nicht machen! Was sagt El Diablo dazu?"
Ramón zuckt mit den Schultern, sein Lächeln ist schief.
"Er klaut doch eh nur, weil es ihm Spaß macht. Die Sachen, die er klaut, wirft er einfach in unsere Umkleide, das ist dann so etwas wie Trinkgeld. Und diesmal habe ich mir halt den ganzen Geldbeutel genommen."
Wieder geht Chimis Blick zu seinem zurückgewonnenen Geldbeutel. Ramón hat sich also nicht nur um ihn gekümmert, als er sich abgeschossen hat - er hat auch noch seinen Geldbeutel besorgt.
Er klappt den Geldbeutel erneut auf, will ein paar Geldscheine herauszunehmen, um sie Ramón zu geben. Doch dann legt sich Ramóns Hand auf seine.
"Nicht."
"Aber du hast dich um mich gekümmert. Und du hattest Ausgaben. Du hast das Busticket für mich gezahlt, nehme ich an und -"
Kurz überlegt Chimi. Was war gestern Abend noch? Ach ja, sein übermäßiger Alkoholkonsum. Klang dann doch so, als wäre das nicht aufs Haus gegangen.
"Und meine Getränke und so weiter."
Wieder schüttelt Ramón den Kopf.
"Habe ich aus deinem Geldbeutel bezahlt. Du schuldest mir nichts."
"Aber dafür, dass ich hier übernachten durfte und ein Frühstück bekommen habe..."
"Ist schon okay."
Nun versteht Chimi auch, warum Ramón vorher seiner Mutter gegenüber so entspannt war. Er musste sich keine Sorgen um den gestohlenen Geldbeutel machen, weil er ihn schon in sicheren Händen wusste.
Dann wird Ramóns Grinsen etwas breiter.
"Weißt du, ich hätte das nicht für jeden gemacht."
Chimi kann nicht anders, er muss das Grinsen erwidern. Und in seinem Kopf formt sich ein Plan. Wenn Ramón, der netteste Tänzer dieser Stadt, kein Geld annehmen will, wird er sich anders bei ihm bedanken.
Wenn schon wenn er sich umsieht, sieht er, dass Ramón auch Hilfe braucht.
Und auch er würde das nicht für jeden machen.
Als Chimi sich später an diesem Tag verabschiedet, wird er noch von Ramóns Mutter aufgehalten.
"Möchtest du nicht noch zum Abendessen da bleiben?"
Chimi muss nicht auf seine Uhr schauen, um zu wissen, dass noch lange nicht Abendessenszeit ist. Aber er war lange genug hier - er muss endlich mal nach Hause. Ramón hat das so hingenommen, seine Mutter scheint da mehr Probleme zu machen.
"Er muss jetzt heim, Mamá. Aber er kommt wieder."
Wieder einmal zeigt sich, dass Ramón genau weiß, was er sagen muss, um seine Mutter zu beruhigen. Sie ist sofort besänftigt und gibt jeglichen Widerstand auf.
Über ihren Kopf hinweg sieht Ramón Chimi an. Und sein Lächeln überzeugt Chimi endgültig davon, sein Versprechen einzulösen und ihn mal zu besuchen.

 Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

Neugierig auf mehr unglaubliche Geschichten....

 

Unser Buchtipp

Cantina Mexicana: Originelle Rezepte für zu Hause. Die mexikanische Küche ist farbenfroh, vielseitig und überaus aromatisch und daher bei Hobbyköchen (und den dazugehörenden Essern!) überaus beliebt. Das neue Buch von Thomasina Miers zeigt über 130 authentische Gerichte, fröhlich-bunt präsentiert und ganz einfach beschrieben. So lässt sich die originale mexikanische Küche im Handumdrehen an den heimischen Esstisch zaubern. Das Buch verzückt unsere Geschmacksknospen mit Leckereien wie Frühstücksburritos für den guten Start in den Tag oder knusprigen Garnelen-Taquitos mit pikanter Avocado-Salsa,
wie Kaktussalat oder Schweinebauch-Carnitas und dem Klassiker Hühnchen-Mole, das mit der teuflisch-scharfen Schokosoße. Auch Desserts, Snacks, Salsas und Drinks werden vorgestellt und runden das original-mexikanische Feeling ab. Alle Zutaten für die Gerichte sind unkompliziert zu beschaffen. Typische Lebensmittel stellt uns die Autorin vor, so z.B. hat sie eine Chili-Kunde zusammengetragen, denn jeder, der schon einmal mit Chilis gekocht hat, weiß, dass es bei der richtigen Schärfe auf die Sorte ankommt. Miers verrät uns auch, wie man Tacos richtig isst. Und sie geizt auch nicht mit jeder Menge Länderinfos, die uns nicht nur kulinarisch über den großen Teich reisen lassen. Thomasina Miers kam mit 18 nach Mexiko und war so begeistert, dass sie bleiben wollte. Sie führte eine eigene Cocktailbar und arbeitete mit einigen der besten einheimischen Köche. Zurück in Großbritannien gewann sie 2005 bei der BBC2-Sendung MasterChef. Kurz darauf eröffnete sie ihre erste mexikanische Cantina Wahaca, die inzwischen preisgekrönt ist und diverse Filialen in ganz Südengland hat.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.