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Leg Dich nicht mit Sammy an

Eigentlich möchte Sammy ein ganz normales Eichhörnchenleben führen, doch das Schicksal zwingt ihn, andere Wege einzuschlagen.
Sonnenlicht flutet in die Höhle. Ein Großteil des Schlafraumes liegt noch im Dunkeln, aber auf dem Boden ist ein großer Lichtkreis mit exakt der gleichen Form wie das Eingangsloch. Sam liegt im Schatten. Von hier aus kann er träge ins Sonnenlicht blinzeln, kann versuchen, dort draußen etwas zu erkennen, ohne von den Sonnenstrahlen an der Nase gekitzelt zu werden. Die Vögel zwitschern, er atmet tief durch und die frische Morgenluft füllt seine Lungen. Schön.
Sammy„Sammy!“
Also, es wäre schön. Es wäre schön, wenn er von allein aufgewacht wäre, jetzt allein wäre und allein aufstehen könnte. Aber er ist nicht allein – er ist selten allein und die laute Stimme teilt ihm mit, dass er auch jetzt nicht allein ist.
„Sammy! Saaaammy!“
Sam rümpft seine Nase. Kurz überlegt er, sich einfach umzudrehen und sich die Ohren zuzuhalten, doch dann merkt er, dass die Stimme näherkommt. Er hat keine Chance mehr.
„Sammy!“
Entnervt rappelt er sich auf und sieht hinüber zum Eingangsloch. Dort sieht man inzwischen nicht mehr nur die Aussicht in den Wald. Nun verdeckt ein braunes Köpfchen die Sicht hinaus. Jacky. Seine nervigste Schwester. Sie heißt eigentlich Jacqueline, hat aber absolut kein Problem damit, Jacky genannt zu werden. Und das projiziert sie auf ihren größeren Bruder. Dass Samuel allerhöchstens Sam genannt werden will und auf keinen Fall Sammy, ist ihr egal.
„Was ist?“
„Schnell, schnell! Du musst kommen! Alle sind unterwegs!“
Frustriert lässt Sam sich wieder auf den Rücken sinken. Alle sind unterwegs… hätte er das gewusst, hätte er Jacky gleich mit dem nächsten greifbaren Gegenstand abgeworfen und sich dann wieder hingelegt, um weiterzuschlafen. Es bedeutet nichts Gutes, wenn alle unterwegs sind. Im harmlosesten Fall bedeutet das, dass der Ort, zu dem alle laufen, absolut überfüllt ist. Und wenn sie diesmal recht haben, kommt dazu das Ungeheuerliche, wegen dem alle aufgebrochen sind.
„Sammy!“
Andererseits… Nichts kann schlimmer sein als weiterhin von Jacky terrorisiert zu werden. Sam schält sich also aus seinem Bettchen und folgt seiner Schwester durch das Eingangsloch. Es ist tatsächlich schon einiges los.
Auf den Bäumen um sie herum tummeln sich lauter weitere kleine Tierchen, alle strömen in eine Richtung – Richtung Lichtung. Nach einem kurzen Blick nach hinten, so als wolle sie sichergehen, dass ihr Bruder noch da ist und sich nicht wieder hingelegt hat, springt Jacky los. Sie hüpft auf einen höhergelegenen Ast und rennt von dort aus ebenfalls Richtung Waldrand. Sam seufzt schwer, er folgt ihr trotzdem. Wenn er schon wach und auf den Beinen ist, kann er sich das Drama ja mal ansehen. Die Bäume am Waldrand sind komplett besetzt. Auf den Ästen tummeln sich lauter kleine Tierchen, über den Baumwipfeln kreisen Vögel, unten an den Stämmen lungern sogar ein paar größere Tiere herum, unter anderem zwei sonst eher scheue Rehe. Sam folgt stur seiner Schwester, die drängelt sich nach vorne durch. Immerhin nicht, um sich dann direkt vor sie zu stellen – dort vorne steht auch der Rest ihrer Familie. Und von diesem Platz aus hat man einen ziemlich guten Blick auf das Geschehen. Auf der Wiese stehen mehrere Fahrzeuge. Keine normalen Autos – sie sind orange und groß und breit und sehen echt gefährlich aus. Davor hat sich eine Gruppe Menschen versammelt, mehrere davon haben eine Axt in der Hand. Plötzlich steht wieder Jacky neben ihm. Ihre Pfote krallt sich in seinen Oberarm, sie kreischt ihm ins Ohr. Und ausnahmsweise ist das Kreischen nicht das, was ihn daran am meisten stört.
„Sie wollen den letzten Nussbaum fällen!“
Der letzte Nussbaum… Das ist eine Katastrophe. Nussbäume sind ihre Lebensgrundlagen. Die ganze Waldgemeinschaft bekommt am Nussbaum und um den Nussbaum herum ihre Nahrung und für einige Tierarten – unter anderem für sie Eichhörnchen – sind Nussbäume heilig. Aber je mehr sich die Menschen ausbreiten, desto mehr dieser wichtigen Bäume werden gefällt. Und nun soll es auch dem letzten Baum an den Kragen gehen. Die Menschen fackeln nicht lange herum. Kaum haben sie ihre Lagebesprechung beendet, schultern sie ihre Äxte und marschieren hinüber zum Nussbaum. Dann… Unzählige Tiere schreien auf, Jacky verbirgt ihr Gesicht an Sams Schulter und schluchzt. Kurze Zeit später liegt der Baum am Boden. „Und jetzt?“ Überall auf den umliegenden Bäumen formen sich Grüppchen, es hängt ein Brummen in der Luft von all den Gesprächen. Auch Sams Familie schließt sich zusammen und es ist Sams jüngste Schwester, die die alles entscheidende Frage gestellt hat. Ihr Vater schließt die Augen, seine Miene ist verzweifelt.
„Ich weiß es nicht. Wo sollen wir jetzt etwas zu essen holen? Der nächste Wald ist so weit weg und ich weiß nicht, wie es heute dort aussieht – ob sie dort nicht auch alle Nussbäume gefällt haben.“
Kurz ist allgemeines Schweigen angesagt – zumindest in ihrer Gruppe. Sam nimmt neben sich eine hysterische Elster wahr.
„Wofür wollen die denn den Baum?“
Gut, als Elster wäre er nicht hysterisch, die Vögel haben ja noch genug anderes Futter. Aber das, was sie gesagt hat… Warum tun die Menschen das? Was machen sie mit den Nüssen? Mögen die Menschen überhaupt Nüsse? Dann hat er einen Geistesblitz. Warum überprüft er das nicht einfach?
Die Männer holen nun die Werkzeuge herbei. Sie beseitigen den Dreck, den sie gemacht haben, schaffen dabei den Baum in eines der Fahrzeuge. Auch die Nüsse folgen. Und Sams Plan wird konkreter. Auf der anderen Seite des Waldes ist eine Menschensiedlung. Dorthin werden die Menschen fahren. Von dort kann man die Nüsse zurückholen. Damit sie wenigstens ein bisschen Wintervorrat haben. Für die nächsten Jahre müssen sie neue Bäume ansäen, das steht fest, aber dieses Jahr sollten sie die zurückgeholten Nüsse über den Winter bringen. Als erster der Tiere wendet Sam dem Geschehen den Rücken zu, er will sich auf den Weg machen. Doch Jacky bemerkt ihn.
„Wohin willst du?“
„Uns retten. Wenn es sonst keiner tut.“
Mit diesen Worten lässt er sie stehen. Er rennt einfach los, verschwindet von dem Ort, an dem gerade eben ihr letzter Nussbaum gefällt wurde. Was bringt es schon, noch weiter zuzusehen? Nein, für seinen Plan ist es wichtig, dass er so schnell wie möglich verschwindet. Er muss bei der Menschensiedlung sein, bevor die Menschen zurückkommen. Dann kann er sich dort verstecken und in der Nacht, wenn die Menschen schlafen, mit den Nüssen verschwinden. Ist ein ganz einfacher Plan, so haben seine Geschwister und er immer die Nachbarskinder überfallen – und andersherum. Sam rennt durch den Wald, von Ast zu Ast. Es fühlt sich gut an, auch wenn die Strecke echt weit ist – der Gedanke daran, etwas Gutes zu tun, gibt ihm Kraft. Dass sämtliche Waldbewohner noch beim Nussbaum sind, kommt ihm sehr entgegen. So muss er nicht auf Gegenverkehr oder eventuelle Bedrohungen achten. Als ihm allmählich die Puste ausgeht, erblickt er endlich das Ende des Waldes. Von Sprung zu Sprung wird es heller und dann kommt er an einem Ast an, von dem aus er die Häusersiedlung sieht.
Angekommen. Jetzt wird es erst richtig schwierig. Als erstes lässt Sam seinen Blick über die Straße und die dort geparkten Autos schweifen. Sind alles ganz normale Autos, keine orangenen Fahrzeuge mit einem gefällten Baum hinten drauf. Er ist rechtzeitig gekommen, die Menschen sind noch nicht da. Nun muss er sich in eine ihrer Unterkünfte schleichen, sich dort verstecken und ihre Rückkehr abwarten. Okay, die Luft ist rein. Welchen Weg nimmt er? Sam nimmt die Gärten vor den Häusern unter die Lupe. Die meisten von ihnen sind nur spärlich bewachsen – Wiesen mit allerlei unnötigem Menschenkram darauf. Aber in manchen gibt es Büsche und die Gärten, die ihm am nächsten sind, haben sogar Bäume. Wenn er dort hineinklettert und dann auf die Wiese springt…
Gedacht, getan. Sam wandert im Schutz der Bäume des Waldes weiter, bis er auf einen Ast des Gartenbaums springen kann. Durch das Geäst huscht er auf die andere Seite des Baumes, dann – Er hält sich gerade noch rechtzeitig davon ab, auf den Rasen zu springen. Denn dort ist etwas, mit dem er nicht gerechnet hat. Menschen. Was machen sie hier? Sollten sie nicht beim Nussbaum sein? Wie von allein setzt Sam sich in Bewegung, er klettert auf einen anderen Ast, von wo aus er in die nächsten Gärten blicken kann. Auch dort sieht er Menschen, genauso wie hinter ein paar der Fenster. Er ist nicht allein.
Das hier sind nicht die Unterkunft der Baumfäller. Es muss noch weitere Menschenstämme geben und er ist beim falschen gelandet. Entmutigt lässt Sam sich auf den dicksten Ast sinken. Verdammt, er hat gedacht, er kann sein Volk retten, kann ihnen etwas zu essen besorgen… Aber er ist eben doch nur ein dummes, naives Eichhörnchen. Nur noch ein bisschen verschnaufen, dann muss er sich auf den Rückweg machen. Hoffentlich hat niemand außer seiner Schwester seinen Abgang mitbekommen – und hoffentlich hat seine Schwester vergessen, was sie gesagt hat. Ist ziemlich unwahrscheinlich, sie vergisst zwar viel, aber nie das, was sie eigentlich nicht wissen soll.
Wieder wandert Sams Blick zu den Menschen, die nur wenige Meter von ihm entfernt auf der Wiese sitzen. Und dann kehrt auf einen Schlag seine Hoffnung zurück. Auf dem Tisch zwischen den beiden stehen Behälter voller Nüsse. In Sams Kopf formt sich ein wahnwitziger Plan – ein noch wahnwitzigerer Plan als der zuvor. Er will Nüsse, dort sind Nüsse, also muss er zu den Menschen. Zu den Menschen… Von klein auf hat man ihm beigebracht, möglichst viel Abstand zu den Menschen zu halten. Das, was er nun vorhat, ist das absolute Gegenteil davon. Aber er muss es tun, er will ja schließlich seine Familie retten. Und so sehr unterscheidet sich der Plan auch nicht von seinem Vorgänger.
Er wartet einfach ab, bis die Menschen verschwinden. Die können ja nicht für immer hier liegen bleiben. Und sobald sie ihre Rücken den Nüssen zuwenden, ist seine Zeit gekommen. Es gelingt tatsächlich. Als es dämmert, macht Sam sich auf den Heimweg. Er braucht wesentlich länger, weil der das komische Gestell, in das die Menschen ihre Nüsse gelegt haben, mit sich zerrt, aber dafür steht seine ganze Familie Kopf, als er mit dem neuen Vorrat zuhause auftaucht.
So beginnt Sams Zeit als Nuss Dieb. Immer wieder wandert er hinüber zur Menschensiedlung und legt sich dort auf die Lauer, bis er freie Bahn hat. Manchmal findet er gar nichts, manchmal muss er statt Nüssen Brot oder etwas ähnliches mitnehmen, doch im Großen und Ganzen läuft es echt gut. In ihren Höhlen sammelt sich ein Vorrat an, Sam bringt mehr mit, als sie essen können. Und dann kommt der Tag, an dem er etwas zu unvorsichtig ist. Der Tag, an dem er sich in eine leere Küche geschlichen hat und dort gerade die Schränke nach Nüssen durchsucht, als hinter ihm die Türe aufgeht. Sam ist inzwischen den Anblick von Menschen gewöhnt. Er sieht sie fast täglich, viel öfter als früher – allerdings nie aus der Nähe. So nah wie jetzt war ihm ein Mensch noch nie und er könnte auch echt gut darauf verzichten, denn dieser Mensch sieht wahrhaftig nicht freundlich aus.
Sams Blick huscht zum gekippten Fenster, durch das er in die Küche geklettert ist. Doch als hätte er seinen Blick bemerkt, tritt der Mensch in seine Fluchtbahn. Nun müsste er, um zum Fenster gelangen, über die Arbeitsfläche huschen und dort ist er dem Menschen ausgeliefert. Sam zittert, er drückt sich zwischen die Kartons. Aber es ist zu spät, der Mensch hat ihn schon längst gesehen. Und er hat ihn im Visier. Er freut sich nicht über den tierischen Besuch, er will ihn loswerden. Verdammt, er war doch immer so vorsichtig… Noch einmal geht Sam seine verbleibenden Möglichkeiten durch. Verstecken? Und dann? Irgendwann muss er hier raus und der Mensch sieht nicht danach aus, als würde er einfach verschwinden, wenn Sam eine Weile lang nichts tut. Springen? Geht nicht, der Mensch ist im Weg. Rennen? Er ist nicht schnell genug, die Küche ist zu klein. Der Mensch würde ihn erwischen. Weiterdenken kann er nicht. Der Mensch macht einen Schritt nach vorne, seine riesige Hand bewegt sich auf Sam zu und Sam schafft es gerade noch, auszuweichen. Es geht los – der Mensch will ihn fangen. Fangen und umbringen und niemals entkommen lassen und – Er muss sich wehren.
Er muss – Wieder rauscht die Hand auf ihn zu und dann reagiert Sam intuitiv. Statt auszuweichen, springt er nach vorne, springt auf die Hand und vergräbt seine Zähne im Fleisch. Der Mensch stolpert zurück, er zieht damit Sam, der immer noch an seiner Hand hängt, aus dem Regal. Nicht gut, nicht gut, nicht gut. Jetzt ist er dem Menschen noch näher. Als die zweite Hand auf ihn zufliegt, springt er wieder. Diesmal nach oben, auf die Brust des Menschen. Von dort aus klettert er auf seine Schulter, will zum Fenster springen. Doch so weit kommt er nicht – die Hand kommt erneut. Diesmal kann er nur ausweichen, weil er sich gegen den Hals des Menschen drückt. So kommt er hier nicht weg. Er muss… Sam gerät in einen Rausch. Ein Rausch, hervorgerufen durch Angst, Adrenalin, Verblüfftheit, weil er einen Menschen, der so viel größer ist als er, tyrannisiert – weil er immer noch lebt. Das erste, das Sam sieht, als er wieder klar denken kann, ist der Blick zurück in die Küche, bevor er sich in den Wald rettet. Der Blick auf einen reglos am Boden liegenden Menschenkörper und Blut, Blut, Blut, vor allem auf seinem Gesicht.
Ab diesem Tag traut Sam sich auch dann in Häuser, wenn die Bewohner zuhause sind. Ein paar Wochen später – es wird langsam kalt im Wald, der Winter steht vor der Türe – wird Sam von seinem Vater beiseite genommen, als er sich gerade auf den Weg zu seiner Menschensiedlung machen will. Das alte Eichhörnchen klettert mit ihm zu einem Baum, auf dem sie sich ungehört unterhalten können. Dort lässt er sich nieder und sieht seinen Sohn ernst an.
„Es gibt schlimme Geschichten aus dem nächsten Wohngebiet der Menschen. Die Tiere erzählen sich, dass dort Panik herrscht. Immer wieder werden Menschen in ihren Häusern tot und mit zerkratzten Gesichtern aufgefunden.“
Sam setzt sich neben ihn, er lässt seine Beine baumeln. Zerkratzte Gesichter… Schuldig. Tot? Das kann er nicht sagen. Sobald er die Menschen außer Gefecht gesetzt hat, sind sie für ihn nicht mehr interessant. Da geht es dann nur noch darum, ihren Nussvorrat zu plündern und damit zu verschwinden. Sein Vater macht sich Sorgen, das sieht er ihm an. Kein Wunder, schließlich wandert sein Sohn fast täglich zu dieser gefährlichen Menschensiedlung…
„Ich bin nicht in Gefahr, Papa. Ich bin ja kein Mensch.“
Die erwartete Erleichterung bleibt aus, sein Vater sieht ihn weiterhin ernst an.
„Hast du etwas damit zu tun?“
Sam schluckt. Sein Vater kennt ihn besser als gedacht…
„Ein Eichhörnchen gegen Menschen? Ich klaue doch nur ihre Nüsse.“
Wirklich überzeugt wirkt Sams Vater nicht. Aber er kann nichts tun, er kann seinen Sohn nicht davon abhalten, seine Raubzüge in der Menschensiedlung fortzusetzen und das ist ihm auch klar. Und so geht das Morden in der Siedlung am Waldrand weiter…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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