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Apfeltee für Jedermann

Apfeltee für Jedermann

Jedermann braucht eine kurze Entspannung, denn der Tod wartet mit Arbeit!

Es ist tiefe Nacht, als er zuhause ankommt. Von seinem Küchenfenster aus sieht er die Sterne am Nachthimmel, die durch das dichte Blätterdach der Bäume hindurch funkeln und sich teilweise im See spiegeln.
Im Vorübergehen öffnet er ein Glas und greift hinein. Dabei rieseln einige Blüten zu Boden, hinterlassen eine Spur, die zum Tisch führt. Dort lässt er die Handvoll Apfelblüten in eine große Tasse fallen, die er sich schon bereit gestellt hat, als er das Haus verlassen hat.
Er trinkt fast täglich Tee. Fast immer, wenn er nach Hause kommt, gießt er sich eine Tasse Tee auf. Meistens greift er dabei auf Apfeltees zurück, in unterschiedlichen Formen. Mal übergießt er Apfelschalen mit heißem Wasser, mal Apfelstücke - das macht er immer dann, wenn er schon weiß, dass er später noch einmal los muss, denn er nimmt sich dann die Apfelstücke mit, in der Hoffnung, damit auch etwas von der Wirkung des Tees mitzunehmen. Heute ist es eben Apfelblütentee.
Eines haben diese Tees gemeinsam: Sie haben eine beruhigende Wirkung. Und Beruhigung, die braucht er. Seine Arbeit ist anstrengend und belastet ihn auch noch nach ihrem Ende.
Das Wasser fängt allmählich an zu kochen, das blubbernde Geräusch wird immer lauter. Er erlaubt sich eine kurze Pause, lehnt kurz den Kopf gegen die Fensterscheibe. Das Glas presst sich kühl gegen seine Stirn.
Von diesem Platz aus sieht er, wie sich ein Reh dem See nähert. Es wandert schnurstracks auf eine Stelle zu, die steil ins Wasser abfällt.
"Geh weg", denkt er sich, "ich kann jetzt nicht.". Und es hilft tatsächlich. Oder das Reh hat einfach seinen Verstand oder seine tierische Intuition benutzt. Wie dem auch sei, es entfernt sich von der Gefahrzone und verschwindet wieder im Wald.
Er spürt, wie er sich entspannt, merkt erst jetzt, wie angespannt er bis gerade eben war - über das normale Maß hinaus. Und das nur wegen einem Reh...
Es ist wirklich Zeit für eine Pause.
Ein leises ‚klick‘ ertönt, sein Wasser ist fertig. Er verlässt seinen Platz am Fenster, geht hinüber und gießt das Wasser über die Blüten in seiner Tasse. Kurz sieht er dabei zu, wie sie im Strudel nach unten gezogen werden, bis sie alle nach oben treiben und an der Wasseroberfläche umher dümpeln. Dann wendet er sich ab, um den Lichtschalter zu betätigen.
Die Lampe über dem Küchentisch flammt auf. Es ist nur ein spärliches Licht, sein Radius geht kaum über den Tisch heraus. Für einen Moment bleibt er neben dem Lichtschalter stehen, lässt den spärlichen Anblick von dem schwach erleuchteten Tisch mit der einsamen Tasse auf sich wirken.
Vielleicht sollte er etwas daran ändern. Einen Lampenschirm besorgen, Blumen auf den Tisch stellen... Aber wofür? Das ist alles vergänglich und keinem ist das mehr bewusst als ihm.
Er stößt sich von der Wand ab, kehrt zum Tisch zurück und nimmt vor der Tasse Platz. Der Dampf steigt ihm in die Nase, er atmet den Geruch tief ein und merkt, wie seine Atmung ein bisschen ruhiger wird.
Zumindest so lange, bis er in den Dampf sieht und kurz hinein pustet.
Der Dampf verformt sich, nimmt Gestalt an. Ohne sein Zutun bleibt er in Bewegung, wechselt seine Form blitzschnell - aber noch so langsam, dass er die Formen erkennen kann.
Eine Frau, die sich an die Kehle fasst und schreit. Ein Auto, ein Baum - ein Autowrack. Ein Mann mit unnatürlich verrenkten Gliedmaßen. Zwei Kinder, die ins Wasser tappen, noch umspielen die Wellen ihre Füße, dann reißen sie sie mit sich. Zwei Menschen, einer davon hält ein Messer in der Hand und bedroht den anderen, bevor er es sich selbst in die Brust rammt.
Er wendet den Blick ab, doch die Bilder bleiben vor seinem geistigen Auge bestehen. Da hilft es auch nicht, dass er seinen Kopf schüttelt und sich selbst sagt, dass ihm das diffuse Licht und seine eigene Wahrnehmung einen Streich gespielt haben. Das mag zwar sein, nichtsdestotrotz kehren nun die Erinnerungen an seinen Arbeitstag zurück.
Er pustet in die Tasse, so fest, dass zwar der ganze Dampf verschwindet, aber auch etwas von dem Tee überschwappt. Dann nimmt er einen Schluck.
Auf vieles ist Verlass. Auf die Endlichkeit der Dinge und auf die beruhigende Kraft seiner Tees. Auch diesmal tritt die entspannende Wirkung fast umgehend ein und die Erinnerungen rücken in den Hintergrund, verblassen langsam.
Er nimmt ein paar tiefe Züge, ignoriert das Brennen des immer noch heißen Wassers auf seiner Zunge. Es wärmt von innen heraus und zusammen mit dem Geschmack der Apfelblüten tut ihm das echt gut.
Doch dann wird er in seinem Tun unterbrochen. Die Uhr an seinem Handgelenk vibriert, bringt ihn dazu, die Tasse abzustellen. Sofort ist die Anspannung zurück - und das, obwohl auch die Uhr ein Apfel ziert, denkt er sich verbittert.
Er öffnet die neueste Meldung, es erscheint ein Countdown, der sich unerbittlich auf die Null zubewegt. Ein weiteres Tippen und er bekommt eine Ortsangabe angezeigt.
Ein tiefes Seufzen verlässt seine Kehle, dann rappelt er sich auf. Im Gehen greift er nach seiner Kutte, die neben der Türe hängt, und nach seiner Sense, seinem unerbittlichen und zuverlässigen Arbeitswerkzeug.
Ein letzter sehnsüchtiger Blick zurück zu seiner Tasse Apfeltee, die noch halb voll am Tisch steht und vor sich hin dampft, bevor er die Küche verlässt.
Die Arbeit ruft.

Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neugierig auf mehr unheilvolle Geschichten....

 

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