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1. Advent: Weihnachtsbesuch

1. Advent

Weihnachten, das Fest der Liebe, das Fest, an dem man seine Liebsten um sich versammelt. Doch manchmal mischt sich ein ungewünschter Besucher unter die Festgemeinde.
Horror zum Advent.
Jeden Sonntag gibt es einen neuen Besuch.

Nichts für schwache Nerven!

Eine Hand. Das ist so ziemlich das makaberste Weihnachtsgeschenk, das Antonia je gesehen hat. Für Halloween wäre das ja noch eine passende Idee, immer noch ziemlich eklig, aber wenigstens passend zum Fest. Doch an Weihnachten… Da schenkt man sich doch schöne Sachen, oder nicht?
Antonia ist schlecht. Onkel Steffen würde sagen, dass sie vorher einfach zu viele Plätzchen genascht hat – das ganze Haus ist voller Plätzchen, überall stehen gut gefüllte Dosen herum, weil traditionell jeder seine Plätzchenreste zur gemeinsamen Weihnachtsfeier mitnimmt. ‚Die müssen ja gegessen werden‘ und Antonia will sich echt nicht über diesen Brauch beschweren, denn sie schlägt da tatsächlich sehr gerne zu.
Heute nicht. Zumindest nicht übermäßig. Sie kennt ihre Grenzen, sie weiß mittlerweile, wie viel Gebäck sie wirklich verträgt.
Außerdem ist das einfach ein anderes Gefühl, irgendwie.
Ja, es könnte am vielen Essen, gemischt mit den Plätzchen, liegen. Es könnte aber auch an der Hand liegen.
Wie hypnotisiert starrt sie auf die Hand, beobachtet, wie sich am Rand vom Handgelenk, wo die Hand vom restlichen Körper abgetrennt wurde und man Fleisch und Knochen sieht, stetig Bluttropfen sammeln, die ebenso stetig auf den Boden perlen und dort sofort im Vorleger versickern.
Irgendjemand hat es geschafft, auf dem Deckchen unter dem Weihnachtsbaum einen Platz für die Hand zu finden. Zwischen all den schön verpackten Schachteln und unförmigeren Geschenken hat sich eine Lücke für dieses widerliche ‚Geschenk‘ gefunden.
Warum reagiert keiner? Normalerweise ist Antonia nicht die Penibelste hier. Als einer der Jungs letztes Jahr der Meinung war, für seinen Kumpel eine Handvoll Matsch einzupacken und unter den Baum zu legen, wurden die beiden Knirpse aus dem Wohnzimmer geschickt und der Putztrupp rückte aus, um das bisschen Schlamm, das aus dem Karton getropft ist, wegzuwischen. Und das war nur Schlamm – nicht gerade schön, aber nicht ansatzweise so eklig wie eine blutige Hand.
Warum tun sie dann nichts?
Tante Stellas Zwerge Pascal und Jessica beenden ihr Flötenkonzert, die versammelte Verwandtschaft klatscht begeistert. Auch Antonia, die zugegebenermaßen nicht mehr viel von dem Auftritt mitbekommen hat, seit sie die Hand entdeckt hat, klatscht. Dann scheucht Tante Stella ihre Kinder zurück auf die Decke vor den Couchen, auf der sich die ganzen kleineren Kinder häuslich eingerichtet haben.
Sie selbst zückt einen Fotoapparat. Den bekam sie vor genau fünf Jahren an dieser Stelle, inklusive einer Anfänger-Fotoausrüstung. Seitdem knipst sie alles, was ihr vor die Linse kommt.
Heute ist es der Baum. Sie springt um den Baum herum, streckt sich, geht in die Hocke, ständig knipst ihre Kamera. Das Mosern der Kinder, die endlich die Geschenke auspacken wollen, ignoriert sie, sie konzentriert sich lächelnd auf ihre Bilder.
Und obwohl sie sonst immer sehr auf Ästhetik achtet – sie hat sogar in ihrer Fototasche mehrere Werkzeuge dafür, unter anderem einen Knipser, mit dem sie störende Zweige oder ähnliches entfernen kann -, stört sie sich nicht an der Hand. Sie macht mehrere Fotos von der Frontseite des Baumes, sogar so, dass die Geschenke zu sehen sind, das erkennt Antonia im Display des Fotoapparates. Doch es kommt keine Reaktion auf die Hand. Tante Stella ist nicht entsetzt, nicht angewidert, sie verzieht noch nicht einmal das Gesicht.
Auch die Fotorunde nimmt ihr Ende. Nach einem letzten kritischen Blick aufs Display ihres Fotoapparates, der von einem zufriedenen Lächeln gefolgt wird, räumt sie ihre Ausrüstung wieder in ihre Tasche und das ist das inoffizielle Zeichen dafür, dass die Bescherung beginnen kann.
Als hätte es einen Startschuss gegeben, rennen die Kinder zu den unter dem Baum liegenden Geschenken. Sie rempeln sich zur Seite, jeder versucht, der Schnellste zu sein und nebenbei das größte Geschenk zu ergattern. Nur blöd, dass auf jedem Geschenk ein Name steht… Antonia grinst leicht, doch dann fällt ihr Blick mal wieder auf die Hand und ihr Magen zieht sich kurz, aber schmerzhaft, zusammen.
Sie ist echt froh, dass sie nicht mehr in dem Alter ist, in dem man von ihr erwartet, dass sie kreischend und lachend um den Baum rennt. Lieber bleibt sie hier sitzen und kämpft weiter gegen die Übelkeit an.
Wenn sie einfach nicht hinsieht… Sie muss die Hand ignorieren, so wie es der Rest der Familie auch macht. Alle hier haben Spaß, sind fröhlich, sind glücklich, trotz Hand unter dem Baum. Das bekommt sie doch auch hin, oder?
Sie muss.
Die Kinder haben ihre Wettkämpfe beendet. Es gibt scheinbar einen Sieger des Rennens, jeder hat sich eines der Geschenke genommen und nun werden sie verteilt. Die kleineren Kinder lassen sich von ihren Eltern vorlesen, wer das jeweilige Paket bekommen soll, die größeren übergeben sie eigenständig.
Die kleine, schwarzhaarige Jessica, die sich eben noch mit ihrer Blockflöte abgemüht hat, tritt vor Antonia. Sie hält ein kleines, unförmiges Päckchen, das sie nun Antonia überreicht. Dann verschwindet sie wieder im Gewühl und holt das nächste Geschenk für einen anderen Verwandten.
So ist doch alles gut. Einfach das Geschenk öffnen, dabei zusehen, wie ihre Geschenke geöffnet werden, Freude verbreiten, Freude erleben.
Antonia reißt das dunkelblaue Geschenkpapier auf, darunter kommt ein Paar ebenfalls dunkelblauer Handschuhe zum Vorschein. Sie sehen weich aus und warm und Antonia ist ganz überrascht, dass sich tatsächlich jemand diesen kleinen Wunsch gemerkt hat.
Sie nimmt die Handschuhe aus der Verpackung, mustert sie kurz, dann schlüpft sie hinein. Der erste passt ganz gut, der zweite…
Der zweite Handschuh ist innen ganz feucht. Der Stoff hat sich damit vollgesogen – allerdings von innen, denn außen hat sie nichts gemerkt. Merkt sie auch jetzt nicht, als sie mit der anderen Hand darüber tastet. Irgendetwas muss im Inneren ausgelaufen sein, nicht viel, aber ausreichend, um die innere Stoffschicht zu durchtränken.
Blut. Intuitiv weiß Antonia, dass es Blut ist, so wie die dunkelroten Tropfen, die vom Handgelenk auf das Deckchen tropften.
Sofort reißt sie sich den Handschuh von der Hand. Am liebsten würde sie ihn ins Feuer werfen oder beim Fenster heraus, doch sie beherrscht sich gerade noch so und hält mit zitternden Händen den Handschuh fest. Man spürt so wirklich nichts…
Antonia zittert am ganzen Leib, ihr Atem geht unregelmäßig und sie spürt, wie ihr Herz gegen die Rippen pocht.
Okay, sie muss sich beruhigen. Darf sich nichts anmerken lassen, muss ganz entspannt und fröhlich bleiben. Das ist doch –
Alles nur Einbildung? Die Kinder laufen immer wieder an der Hand vorbei, greifen zielsicher nach den Päckchen, die direkt neben ihr liegen, doch keiner reagiert auf die Hand. Keiner schreit, keiner fragt seinen Papa, was die Hand da tut, keiner hebt sie auf.
Ihre Hand ist trocken. Gerade eben noch hat sie das Blut, die Feuchtigkeit, die Klammheit des Stoffes gespürt und jetzt ist ihre Hand so trocken, als wäre das nie passiert. Es ist auch nichts zu sehen, keine roten Tropfen auf ihrer Hand, keine roten Streifen vom Blut.
Die Bescherung nimmt ihren Lauf. Jeder bekommt seine Geschenke, die Stimmung ist gut, ständig wird gelacht und allmählich entspannt sich auch Antonia etwas. Wenn sie einfach nicht zur Hand sieht… Ihre weiteren Geschenke sind alle ganz normal, keine Spur von einer mysteriösen Hand.
Dann neigt sich der Abend dem Ende entgegen und das Wohnzimmer leert sich. Antonia bleibt sitzen, sie braucht noch eine kleine Auszeit, beschließt sie. Um sie herum toben noch ein paar Kinder mit ihren Geschenken.
Plötzlich hat Antonia eine Idee. Sie stoppt eines der Mädchen, bedeutet ihr, zu ihr zu kommen.
„Siehst du die Hand da drüben?“
Das kleine Mädchen dreht sich um, mustert die Decke unter dem Weihnachtsbaum, die nun leer ist – abgesehen von der Hand. Sie liegt immer noch an der gleichen Stelle, das Blut, das auf die Decke tropfte, ist inzwischen getrocknet.
Als die Kleine sich wieder Antonia zuwendet, ist ihr Blick wütend.
„Das ist nicht lustig.“
Mit diesen Worten verschwindet sie und das letzte verbleibende Kind im Raum, ihr Bruder, folgt ihr.
Sie hat sie nicht gesehen. Sie dachte, Antonia will sie auf den Arm nehmen.
Die Hand existiert nicht. So real sie auch aussehen mag – sie ist es nicht.
Trotzdem fühlt sich Antonia nicht richtig erleichtert. Klar, wenn niemand außer ihr die Hand sieht, muss es eine Einbildung sein. Eine ziemlich lebhafte, okay, aber eben nur eine Einbildung. Da ist keine Hand.
Aber Angst hat sie trotzdem und sie muss einfach die ganze Zeit an die Hand denken – sie hat es ja noch nicht einmal geschafft, für länger als ein paar Minuten wegzusehen.
Gut, es gibt eine Sache, die sie tun kann, um sich zu beruhigen. Sie muss einfach nur die Hand anfassen – beziehungsweise es versuchen und dann feststellen, dass es nicht geht, weil dort, wo sich die Finger abzeichnen, nur Luft ist.
Dann kann sie endlich ruhig schlafen. Doch davor braucht sie diese Gewissheit.
Endlich steht Antonia auf. Sie geht hinüber zum Weihnachtsbaum und geht daneben in die Hocke, direkt vor der Hand.
Aber was ist, wenn sie eben doch da ist? Sie sieht einfach so echt aus – Antonia sieht das Blut am Handgelenk schimmern, sieht den hellblauen Nagellack auf den Fingernägeln, der teilweise schon abgesprungen ist. Es ist eine zierliche kleine Frauenhand, an der Seite etwas aufgesprungen, aber ansonsten sehr gut gepflegt. Wahrscheinlich kommen die Risse von der Kälte, das Problem hat Antonia ja auch.
Nein. Sie kann nicht da sein. Niemand hat sie gesehen und wie soll etwas so existieren, dass es nur ein einziger Mensch sieht?
Antonia nimmt ihren ganzen Mut zusammen und stupst die Hand an. Und wider Erwarten gleitet ihr Finger nicht durch Luft – er stößt auf Widerstand, er berührt etwas. Kalte, trockene Haut…
Ihr Herz setzt einen Schlag aus, ihr wird noch sehr viel übler als zuvor.
Dann dreht sich die Hand um und packt zu. Antonias Schrei bleibt in ihrer Kehle stecken............
....... gespannt auf den nächsten Besuch? Nächsten Sonntag geht es weiter!
 

Victoria

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unser Buchtipp

Mein Winterspaziergang: Ausmalen und durchatmen
Hereinspaziert ins Winterwunderland! Frische Luft kitzelt in der Nase und die ersten Eisblumen schmücken die Fensterscheiben: Der Winter ist da! Schnappen Sie sich Buntstifte und Spitzer und kommen Sie mit auf einen Winterspaziergang der besonderen Art. Erwecken Sie wilde Schneeballschlachten, romantische Weihnachtsmärkte und verlockende Festtafeln zum Leben- mit bunten Farben gegen das Grau vor dem Fenster!

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